HINTERGRUND

Anamnese und Gewebemarker helfen bei Kindern, das Risiko für Typ-1-Diabetes abzuschätzen

Von Nicola Siegmund-Schultze Veröffentlicht:

Weltweit, auch in Deutschland, erkranken immer mehr Kinder an Typ-1-Diabetes. Warum, das ist unklar. Bereits etwa 11 000 Kinder in Deutschland haben juvenilen Diabetes. Im Durchschnitt sind die Kinder bei der Diagnose achteinhalb Jahre alt.

In Baden-Württemberg etwa erkrankten zwischen 1987 und 1998 jedes Jahr durchschnittlich 13 pro 100 000 Kinder bis zum 14. Lebensjahr neu. In den elf Jahren ist die Inzidenz um 47 Prozent gestiegen, um 3,6 Prozent pro Jahr. Bis zum Jahr 2020 soll sich die Inzidenz Schätzungen zu Folge fast verdoppeln - auf fast 25 pro 100 000 Kinder und Jahr.

Wenn die Krankheit entdeckt wird, haben manche Kinder bereits Stoffwechselentgleisungen. Präventionsstrategien sollen das verhindern, und sie werden immer differenzierter. "Kein Kind muss heute die Manifestation seiner Erkrankung als Koma erleben", sagte Dr. Peter Achenbach vom Institut für Diabetesforschung in München bei der Euroforum Konferenz Diabetes in Köln.

Typ-1-Diabetes ist eine Autoimmunerkrankung mit drei Phasen: einer genetischen Prädisposition, der Phase, in der autoreaktive Antikörper gegen Betazellen der Langerhans-Inselzellen im Pankreas (Inselautoimmunität) gebildet werden ohne Manifestation, sowie die Phase der klinischen Erkrankung.

In jeder der drei Phasen ist ein Risiko-Screening möglich. Die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Kind erkranken wird, lasse sich am besten aus der Kombination von Familienanamnese und HLA-Muster abschätzen, erläuterte Achenbach. "Das ist auch die beste Methode für Pädiater."

Haben beide Eltern oder ein Elternteil und ein Geschwisterkind Typ-1-Diabetes, liegt das Risiko, bis zum Alter von fünf Jahren zu erkranken, bei 27 Prozent. Ist ein eineiiger Zwilling erkrankt, hat der zweite ein Risiko von 50 Prozent. Wenn nur ein Verwandter ersten Grades betroffen ist, beträgt das Risiko für juvenilen Diabetes 3 bis 5 Prozent.

Auch das HLA-Muster beeinflusst das Diabetes-Risiko. Stark erhöht ist es bei der Kombination HLA-DR3/4 (20 Prozent Krankheitsrisiko) und bei Homozygotie für HLA-DR4 (17 Prozent). Und ein bestimmter Abschnitt auf dem Insulin-Gen erhöht das Risiko ungünstiger HLA-Merkmale weiter, längere Versionen dieses Genababschnitts verringern das Risiko.

Die Chance, dass ein Kind mit mehreren eng verwandten Betroffenen und ungünstiger HLA-DR-Konstellation erkrankt, beträgt 50 Prozent. Für ein Kind mit familiärer Belastung, aber ohne HLA-DR3- oder -DR4-Allel liegt das Risiko dagegen unter fünf Prozent.

"Die Kombination aus Familienanamnese und HLA-Screening bringt in der Praxis auf jeden Fall etwas", sagte Achenbach. Aber sind schon Autoantikörper nachgewiesen, ist ein genetisches Screening überflüssig. Denn nur Kinder mit Inselautoantikörpern entwickeln Typ-1-Diabetes, und zwar sechs von zehn innerhalb von zehn Jahren nach Auftreten der Antikörper.

Autoantikörper sind Marker für die Progression des Diabetes

Die differenzierte Analyse der Antikörper lässt abschätzen, wie rasch sich die Krankheit entwickeln wird. Als Faustregel gilt: Je mehr unterschiedliche Autoantikörper, desto höher das Risiko, und je jünger das Kind mit Autoantikörpern, desto rascher die Progression. In der deutschen BABYDIAB-Studie, in die 1650 Kinder mit familiärer Belastung ab der Geburt aufgenommen wurden, hatten acht Prozent nach zehn Jahren Autoantikörper, und zwei von hundert hatten Diabetes. Waren verschiedene Autoantikörper vorhanden, erkrankten 62 Prozent innerhalb von acht Jahren nach Antikörpernachweis an Diabetes, bei einer einzigen Antikörperspezifität unter fünf Prozent.

Als erstes entwickeln sich Autoantikörper gegen Insulin (IAA) mit einem Spitzenwert um das erste Lebensjahr, gefolgt von Inselzellantikörpern gegen das Enzym Glutamat-Decarboxylase (GADA) und Tyrosinphosphatasen (IA-2A und IA-2ß) mit einem Peak um das zweite Lebensjahr. Haben Kinder die Antikörper IA-2A und IAA, bekommen alle in sechs Jahren Diabetes, bei der Kombination IA-2A plus GADA sind es 47 Prozent.



Kann Diät die Erkrankung bei Kindern verzögern?

Nicht nur Gene, auch Umweltfaktoren wie die Ernährung haben einen Einfluss darauf, ob sich ein Typ-1-Diabetes entwickelt. Da sichere Studiendaten fehlen, gibt es noch keine speziellen Empfehlungen zur Ernährung für Kinder mit erhöhtem Risiko. Aber Gluten, eine Eiweißfraktion in Getreide, steht schon seit Längerem im Verdacht, Autoimmunprozesse anzukurbeln, wenn Säuglinge früh Glutenhaltiges verspeisen. Daher die Empfehlung, in den ersten sechs Lebensmonaten ausschließlich zu stillen.

In der BABYDIÄT-Studie wird derzeit geprüft, ob sich die Entwicklung von Typ-1-Diabetes bei Kindern mit erhöhtem Risiko verzögern oder verhindern lässt, wenn sie in den ersten zwölf Lebensmonaten Gluten-frei ernährt werden. Protektive Effekte werden auch für Vitamin D und langkettige, mehrfach ungesättigte Fettsäuren diskutiert, ohne dass optimale Dosierungen bekannt wären (Dtsch Ärzteblatt 104, 2007, A-570).

Zur Rachitisprophylaxe empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde, Babynahrung mit 400 bis 500 IE Vitamin D am Tag bis zum ersten Lebensjahr zu ergänzen Ob das auch vor Autoimmunerkrankungen schützt, ist unklar. In Studien wird geprüft, ob und in welcher Dosis nasales oder orales Insulin eine Toleranz bei erhöhtem Diabetesrisiko induzieren könnte. (nsi)

Weitere Infos zur BABYDIÄT-Studie per E-Mail unter der Adresse prevent.diabetes@lrz.uni-muenchen.de

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