Diabetes

Die Zukunft gehört der sensorischen Zuckermessung

Die Zeiten, in denen sich Diabetiker zur Zuckermessung in den Finger stechen müssen, sind wohl bald vorbei. Sensor-basierte Messsysteme werden sich künftig durchsetzen. Das bringt neue Möglichkeiten und auch Herausforderungen für Patienten und Ärzte.

Dr. Thomas MeißnerVon Dr. Thomas Meißner Veröffentlicht:
Eine unblutige Zuckermessung mittels Sensoren bringt den Diabetikern mehr Lebensqualität.

Eine unblutige Zuckermessung mittels Sensoren bringt den Diabetikern mehr Lebensqualität.

© Hasselblad H4D/Medronic GmbH

OSTFILDERN. "Die nichtblutige Glukosemessung wird sich durchsetzen", ist Privatdozent Andrej Zeyfang überzeugt. Zwar werde man hier und da eine blutige Messung zur Bestätigung brauchen, so der Chefarzt der Klinik für Innere Medizin, Altersmedizin und Palliativmedizin an der Medius Klinik Ostfildern-Ruit, etwa bei schnellen und drastischen Glukosespiegelveränderungen.

Aber die mögliche Verbesserung der Stoffwechseleinstellung auf der Grundlage von Sensor-basiert erstellten Profilen, der deutlich verbesserte Einblick in den individuellen Glukosestoffwechsel und die vergleichsweise höhere Lebensqualität, allein, weil sich Patienten nicht mehrmals täglich in den Finger stechen müssen, sind gute Argumente.

Das sehen viele Diabetologen so. Die analytische Güte der CGM-Geräte (kontinuierliches Glukose-Monitoring) habe sich in den vergangenen 15 Jahren deutlich verbessert, konstatierte Professor Lutz Heinemann von der Arbeitsgemeinschaft Diabetes & Technologie (AGDT) bereits 2017 im "Deutschen Gesundheitsbericht Diabetes".

"Die rasche Weiterentwicklung bei CGM-Systemen legt einen Paradigmenwechsel in der Zukunft nahe, das heißt, konventionelle Blutglukosemessungen werden vielfach obsolet", schrieb Heinemann.

Ein großer Vorteil der rtCGM (Real-time CGM) ist die Alarmfunktion, die – entsprechende Einstellungen vorausgesetzt – bereits aktiviert wird, bevor zum Beispiel eine Unterzuckerung einsetzt.

Ein Punkt, der besonders für jene Typ-1-Diabetes-Patienten wichtig ist, die eine Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörung haben. Ebenso lassen sich mit rtCGM Hyperglykämien rechtzeitig erkennen und leichter verhindern.

Typ-2-Diabetiker mit Insulintherapie profitieren – trotz fehlender Alarmfunktion – eher vom FlashGlukose-Monitoring (FGM). Denn es muss lediglich ein Sensor im Unterhautfettgewebe platziert werden, der regelmäßig mit einem Scanner überstrichen wird. Das hilft besonders in der Einstellungsphase auf Insulin mit notwendigerweise häufigen Messungen.

Genau genommen, ist das FGM-Gerät nichts anderes als ein "abgespecktes" CGM-Gerät: Der am Oberarm platzierte Sensor enthält einen Speicher, der acht Stunden lang alle fünf Minuten den jeweiligen interstitiellen Glukosewert misst. Scannt der Patient also mindestens alle acht Stunden, dann erhält der Arzt ebenfalls vollständige 24-Stunden-Profile.

Mehr Lebensqualität im Alter

"Ich hatte kürzlich eine 89-jährige Patientin in meiner Klinik mit seit dem 60. Lebensjahr bestehendem Typ-1-Diabetes und jetzt sehr instabiler Stoffwechselsituation", berichtet Zeyfang. Für die Überwachungs- und Einstellungsphase bekam sie einen FGM-Sensor.

Allein die Tatsache, dass das übliche Fingerstechen wegfiel, hellte die Stimmung der alten Dame deutlich auf. "Beim Auslesen der Werte stellten wir überrascht fest, dass die Frau zwar mit guten Glukosewerten abends ins Bett ging und morgens mit guten Werten aus der Nacht kam.

Aber zwischen Mitternacht und 4 Uhr morgens lagen die Werte zwischen 40 und 47 mg/dl", erzählt Zeyfang. Ein Zustand, der offenbar bereits seit längerem und unbemerkt bestand und der negative Auswirkungen auf kognitive Funktionen haben kann. "Ohne Sensor hätten wir das nicht herausbekommen."

Wann ist nun eine konventionelle Blutzuckerselbstmessung, wann eine rtCGM und wann die FGM medizinisch am sinnvollsten? Der Pädiater Professor Thomas Danne aus Hannover hat dies einmal folgendermaßen zusammengefasst:

»Blutzucker messen: Patienten mit Insulintherapie ohne erhöhtes Risiko für Hypoglykämien,

»FGM: bei Hypoglykämie-Risiko oder zur Verbesserung der "time-in-range", also des wünschenswerten Blutzucker-Zielkorridors,

»rtCGM mit oder ohne Insulinpumpe: Leistungssportler, Schwangere, Kinder und Jugendliche und Patienten mit Hypoglykämiewahrnehmungsstörung,

»Sensor-unterstützte Insulinpumpe: Patienten mit schweren Hypoglykämien in der Anamnese.

Altersmediziner Zeyfang, der viele Jahre Vorsitzender der AG Diabetes und Geriatrie der DDG gewesen ist, sieht das ähnlich: "Patienten mit Insulintherapie, die häufiger als sechs Mal täglich ihren Blutzucker messen müssen, ist auf jeden Fall eine kontinuierliche Messung zu empfehlen.

Älteren Menschen empfehle ich eher die FGM-Messung. Denn die Handhabung ist einfacher, das Gerät muss nicht kalibriert werden und die Patienten werden nicht ständig durch Alarme verunsichert."

Alte Menschen tolerierten die Blutzuckermessung sehr viel weniger als das Setzen einer Insulinspritze und messen daher zu selten, so seine Erfahrung. Biete man ihnen das FGM-System an, steige die Lebensqualität, und der Arzt erhalte im Vergleich zur konventionellen Blutzuckerselbstmessung ein realistisches Blutzuckerprofil.

rtCGM-Systeme überforderten gerade alte Menschen oft. Auch mit Glukosetrend-Angaben arbeitet der Geriater selten. "Es besteht durchaus die Gefahr, dass insulinpflichtige Patienten auf die Trendangaben überreagieren."

Auch Typ-2-Diabetiker profitieren

Dass prinzipiell auch Typ-2-Diabetiker von CGM profitieren können, hat gerade eine japanische Arbeitsgruppe nachgewiesen. Dr. Keiichi Torimoto aus Kitakyushu-shi und Kollegen haben bei 294 Patienten versucht, Risikofaktoren für eine Hypoglykämie zu identifizieren und dazu per CGM Parameter wie mittlerer Blutzucker (MBG), den Variationskoeffizienten (CV) und weitere bestimmt.

Demnach signalisieren niedrige MBG bei starken Blutzuckerschwankungen ein hohes Hypoglykämierisiko. Schwellenwerte waren ein MGG von 152 mg/dl und ein CV von 22 Prozent. Der LBGI (Low Blood Glucose Index) erwies sich als bester Prädiktor für Hypoglykämien.

Lag die Unterzuckerungswahrscheinlichkeit bei Vorliegen eines Risikofaktors bei 4,2 Prozent, betrug sie bereits bei Vorliegen von zwei Risikofaktoren 36,6 Prozent (Diabetes Technol Ther 2018; online 2. August).

Aus anderen Studien wie IMPACT geht hervor, dass selbst scheinbar gut eingestellte Patienten erstaunlich oft niedrige Glukosewerte haben können. In REPLACE kam heraus, dass Typ-2-Diabetiker mit intensivierter Insulintherapie im Vergleich zur konventionellen Messung signifikant seltener niedrige Glukosewerte aufweisen, wenn sie ihren Glukosestoffwechsel per FGM überwachen.

Diverse Probleme im Umgang mit Sensor-basierten Messsystemen gilt es noch zu lösen, seien es technische, finanzielle, versorgungsmedizinische oder logistische.

"Es ist ein verbreitetes Missverständnis zu glauben, mit mehr Technik müsse man weniger nachdenken", sagte die bekannte Diabetestechnologieexpertin Sandra Schlüter aus Northeim vor einigen Jahren zur "Ärzte Zeitung". Daran hat sich nichts geändert. "Ein Teil der Patienten wird mit der Technik und der Menge an Daten überfordert", sagt Zeyfang.

Fülle an komplexen Daten

Aber auch der Hausarzt oder Internist könne schnell überfordert sein, wenn sein Patient ihn plötzlich mit einer Fülle an komplexen und selbst generierten Gesundheitsdaten konfrontiert, seien es Glukosetrends, Bewegungs- oder Ernährungsdaten, und erwartet, daraus unmittelbar die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Benötigt würden Algorithmen und Strukturen, die es ermöglichen die Menge an Rohdaten so zu nutzen, dass sowohl Patienten als auch Ärzte damit intuitiv umgehen könnten, sagt Zeyfang. "Da sind die Hersteller gefragt, aber auch die Kassen. Ansonsten entsteht lediglich ein Datenmüllberg."

Wie in anderen Bereichen der Informationstechnologie auch fordern Diabetologen außerdem einheitliche Standards, sodass aus jedem Messsystem die gleichen Datenformate und ähnliche grafische Aufbereitungen der Daten herauskommen.

Derzeit muss noch mit vielen verschiedenen Softwares gearbeitet werden, was den Umgang mit der Technologie erschwert. Auch die notwendige Kalibrierung der Sensoren birgt Problempotenzial, weil Patienten dabei Fehler machen können.

Besonders, wenn Sensoren sehr lange liegen dürfen – bei einem Hersteller bis zu 90 Tage – könnten sich Kalibrierungsfehler erheblich auf die Stoffwechsellage auswirken.

Messwerte können Angst machen

Und: Kontinuierliche Glukosemessung ohne Schulung, das sei wie ein Auto ohne Reifen, hat Dr. Michael Böhmer, Leiter einer Diabetes-Schwerpunktpraxis in Warburg, einmal gesagt.

Manche Patienten hätten die Vorstellung, die Blutzuckerlinie müsse "gerade wie mit dem Lineal gezogen" verlaufen, weshalb sie dann versuchten, ihre Blutzuckerkurve permanent anzupassen, erklärte Böhmer.

"Wenn mein CGM-kontrollierter Diabetes-Patient eine Brezel isst und nach fünf Minuten feststellt, dass sein Blutzucker auf 310 mg/dl hochgeschnellt ist, wird er womöglich mit Angst reagieren und sich fragen: Was passiert da gerade mit mir?", argumentiert auch Zeyfang.

Das Gerät weiß nicht, was in den 20 Minuten vor der Messung passiert ist, was gegessen worden ist, welche körperliche Aktivität stattgefunden hat. Das weiß nur der Patient. Der interstitielle Messwert entspricht erst mit einigen Minuten Verzögerung dem Blutzuckermesswert.

Ohne Schulung und Anleitung können rtCGM und FGM also kaum positiven Wirkungen entfalten. Ältere Menschen müssen anders geschult werden als etwa Kinder und Jugendliche, erfahrene Patienten anders als unerfahrene.

Entsprechende Programme gibt es bereits. Doch solange diese nicht evaluiert worden sind, zahlen die Kassen diese Schulungen nicht.

Schließlich wird die Glukosemessung im Unterhautfettgewebe nicht das Ende der Entwicklung Sensor-basierter Messmethoden sein.

Es gab und gibt Versuche der Glukosebestimmung aus dem Speichel, photometrische Bestimmungen und seit Kurzem die Glukose-messende Kontaktlinse.

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