Hilfe nötig

Was zu lange Zehennägel alles aussagen können

Kann jemand noch seinen Alltag bewältigen? Das lässt sich oft an den Zehennägeln ablesen. Werden diese nicht mehr geschnitten, läuft wohl auch einiges andere schief.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Ein Blick auf die Zehen lohnt.

Ein Blick auf die Zehen lohnt.

© zilvergolf / stock.adobe.com

BOSTON. Der Mann kam wie immer sehr gepflegt zu seiner Ärztin: Frisch rasiert, mit weißem Hemd und feiner Jacke sowie glänzend polierten brauen Oxfordschuhen.

"Ein Passant hätte wohl gedacht, er sei auf dem Weg ins Büro und nicht zu seiner Ärztin", schreiben Dr. Ariela Orkaby und Dr. Andrea Wershof Schwartz von der Harvard Medical School in Boston (JAMA Intern Med 2018, online 9. April).

Es war sein erster Arzttermin seit dem Tod seiner Frau vor einigen Monaten. Als die behandelnde Ärztin zusammen mit dem Mann zum Untersuchungszimmer lief, fiel ihr ein verlangsamter Gang auf.

Die klinische Untersuchung selbst förderte jedoch nichts Ungewöhnliches zutage: Das Gewicht war stabil, der Blutdruck im Normbereich. Stolz berichtete er, nach wie vor dreimal pro Woche ins Fitnessstudio zu gehen.

Nägel über die Zehen gekrümmt

Durch seinen veränderten Gang alarmiert, bat die Ärztin den Patienten, seine Schuhe und Socken auszuziehen. Beide staunten über Zehennägel, die so lang waren, dass sie sich vorne bereits über die Zehen krümmten.

Ja, so gab er zu, seine Frau habe ihm die Nägel immer geschnitten, er habe Schwierigkeiten, sie zu erreichen und selbst zu kürzen. "Warum hat dieser Patient zwar seine Schuhe auf Hochglanz poliert, war aber nicht in der Lage, sich um die Zehennägel zu kümmern?", fragen Orkaby und Schwarz.

Offenbar könne man an den Zehennägeln ablesen, wie es um die funktionelle Unabhängigkeit eines Patienten bestellt ist. Zehennägel seien für diesen Zweck ähnlich aussagekräftig wie der HbA1c für den metabolischen Zustand eines Diabetikers.

"Wir nutzen die Nägel schon lange als wichtige Quelle für medizinische Informationen: Trommelschlägelfinger können eine Lungenerkrankung andeuten, Splitterhämorrhagien eine Endokarditis, die Koilonychie einen Eisenmangel", erläutern die beiden Ärztinnen.

Zehennägel hingegen seien ein Fenster zum funktionellen Status eines Patienten. Sie wachsen jeden Monat etwa 2 Millimeter; wenn sie sich bereits über die Zehen krümmen, bedeute dies, dass sich der Patienten oder die Pflegezuständigen seit Monaten nicht mehr darum gekümmert haben. In diesem Fall sollten Ärzte den Grund für das Versäumnis unbedingt herausfinden.

Burn-out bei Angehörigen?

Möglicherweise kann sich ein Patient aufgrund einer Arthrose oder Sarkopenie nicht mehr weit genug bücken. Vielleicht helfe dann eine spezielle Physiotherapie, die körperliche Biegsamkeit und die Muskelkraft zu verbessern.

Die vernachlässigte Nagelpflege sei mitunter aber auch Zeichen erster kognitiver Defizite. In diesem Fall wäre zu befürchten, dass der Patient nicht mehr in der Lage ist, seine Medikamente selbstständig einzunehmen, und Schwierigkeiten bei anderen Alltagsaktivitäten bestehen.

Schließlich zähle auch eine Depression zu den möglichen Ursachen, oder, wie im beschriebenen Fall, eine Umstellung der Lebensverhältnisse: Der ansonsten so gepflegte Mann hatte erhebliche Probleme, ohne seine Partnerin im Leben klarzukommen, erläutern die Ärztinnen.

Seine Tochter um Hilfe zu bitten, habe er sich nicht getraut, und einen Fußpflegesalon aufzusuchen, sei ihm nicht in den Sinn gekommen.

Ein Blick auf die Zehennägel und die Frage: " Wie werden ihre Nägel geschnitten?", könnten also sehr aufschlussreich sein – selbst bei pflegebedürftigen Personen. Schaffen es die Angehörigen nicht, auf die Füße zu achten, sei dies ein Zeichen für Überlastung und Burn-out.

Das Gespräch mit dem gepflegten Mann habe dazu geführt, dass sich seine Kinder etwas mehr um ihn kümmerten und seine Tochter Termine für ihn bei einem Fußpfleger ausmachte. Nun könne er auch wieder mit dem gewohnten flotten Gang dahinschreiten.

Mehr zum Thema
Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Ambulantisierung

90 zusätzliche OPS-Codes für Hybrid-DRG vereinbart

Lesetipps
Der Patient wird auf eine C287Y-Mutation im HFE-Gen untersucht. Das Ergebnis, eine homozygote Mutation, bestätigt die Verdachtsdiagnose: Der Patient leidet an einer Hämochromatose.

© hh5800 / Getty Images / iStock

Häufige Erbkrankheit übersehen

Bei dieser „rheumatoiden Arthritis“ mussten DMARD versagen