Interview

Antikoagulation – Hohes Alter per se ist keine Kontraindikation

Eine klare Bewertung geeigneter Medikamente für Ältere bietet die FORTA-Liste. Der medizinische Fortschritt macht dabei regelmäßig Aktualisierungen nötig – wie der Erfinder des Konzepts, Professor Martin Wehling, anhand der Antikoagulation bei VHF verdeutlicht.

Dr. Thomas MeißnerVon Dr. Thomas Meißner Veröffentlicht:
Unter welchen Umständen die Dosis reduziert werden sollte, rät die Fachinformation.

Unter welchen Umständen die Dosis reduziert werden sollte, rät die Fachinformation.

© Alexander Raths / fotolia.com

Professor Martin Wehling: Für das Update unserer FORTA (Fit for the Aged)-Liste werden mehr als 20 Geriater aus Deutschland, Österreich und wahrscheinlich der Schweiz in einem Delphi-Prozess altersgeeignete Medikamente nach den Kategorien "A" wie absolut indiziert bis "D" wie "Don't", also ungeeignet, bewerten.

In der Indikation Vorhofflimmern (VHF) werden sie da kaum extrapolieren müssen, weil wir tatsächlich Daten zur Anwendung bei Hochbetagten haben. Das ist eine große Ausnahme in Bezug auf die Anwendung von Arzneimitteln bei geriatrischen Patienten.

Professor Martin Wehling

  • Aktuelle Position: Direktor des Instituts für Klinische Pharmakologie Mannheim (KPM), Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg, sowie Leiter des Zentrums für Gerontopharmakologie in Mannheim
  • Engagement: Erfinder des FORTA-Konzeptes

© Martin Wehling

Außerdem hat es aufgrund der in den letzten Jahren veröffentlichten Daten bereits eine Mikro-FORTA-Liste (OAC-FORTA 2016) speziell für diese Indikation gegeben (Drugs & Aging 2017; 34: 499-507).

Hier hatte eine internationale Arbeitsgruppe ausschließlich die Vitamin-K-Antagonisten (VKA) und die neuen oralen Antikoagulantien (NOAK) für Patienten mit VHF ab 65 Jahre bewertet. Diese ist bereits in die aktuelle FORTA-App eingearbeitet worden. Für das hierzulande nach wie vor viel genutzte Phenprocoumon sieht es eher schlecht aus. Ich bin gespannt, wie das die Gutachter im größeren FORTA-Gremium sehen.

Inwiefern?

Wehling: Phenprocoumon ist noch nie in einer kontrollierten Studie bei alten Patienten untersucht worden! In allen NOAK-Studien ist Warfarin, das eine etwa drei Mal kürzere Halbwertszeit als Phenprocoumon hat, als Vergleichssubstanz eingesetzt worden.

Vor diesem Hintergrund haben die Gutachter der OAC-FORTA-Liste gesagt: Warfarin können wir der günstigen Kategorie "B" zuordnen. Denn die Schlaganfallraten sind bei korrekter Einnahme niedrig und die Blutungsraten akzeptabel. Auf Phenprocoumon können wir das aber nicht übertragen. Es könnte besser oder schlechter als das Warfarin sein. Und der Grat zwischen Nutzen und Risiko ist zu schmal, als dass wir dazu Alltagserfahrungen mit Phenprocoumon heranziehen könnten. Es hat daher nur ein "C" wie "kritisch" erhalten.

Und wie sieht es für die NOAKs in der Liste OAC-FORTA 2016 aus?

Wehling: Dabigatran, Edoxaban und Rivaroxaban wurden ebenfalls mit "B" bewertet, wobei Edoxaban nur knapp am "A" gescheitert ist. Apixaban hat aufgrund einer nachgewiesenen Endpunktüberlegenheit, auch bei über 80-jährigen Patienten, als einziges orales Antikoagulanz ein "A" bekommen, da es unter anderem in puncto Hirnblutungen bei über 80-Jährigen einen Vorteil gegenüber Warfarin hat. Außerdem ist Apixaban nicht stark nierengängig.

Der überwiegenden Zahl alter Patienten mit VHF können wir heute also NOAKs empfehlen, weil wir in Studien die Überlegenheit gegenüber VKA gesehen haben.

Gibt es einen Unterschied zu Patienten mit valvulärem Vorhofflimmern?

Wehling: Die FORTA-Empfehlungen bewegen sich stets innerhalb des zugelassenen Indikationsspektrums. Patienten mit Kunstklappen und mit Mitralstenosen darf man daher nach wie vor nicht mit NOAKs behandeln.

Was hilft bei der Entscheidung zur Frage: Antikoagulation ja oder nein?

Wehling: Insgesamt werden zu wenige alte Patienten mit VHF antikoaguliert und wenn, dann erhalten sie oft eine zu geringe Dosis. Hohes Alter per se ist aber keine Kontraindikation zur Antikoagulation! Es geht um Funktionalität, die bewertet werden muss, etwa mithilfe der modifizierten Rankin-Skala und dem Mini Mental Status Test sowie idealerweise gemeinsam mit einem Geriater.

Schwere Demenz, hohe nicht behandelbare Sturzgefahr mit schweren Verletzungen oder andere schwere Behinderungen könnten zum Beispiel gegen die Antikoagulation sprechen. Unter welchen Umständen die Dosis reduziert werden sollte, sagen uns die jeweiligen Fachinformationen.

Meine Empfehlung ist, die Patienten regelmäßig einzubestellen und vor allem auch die glomeruläre Filtrationsrate zu bestimmen. Die Grenzwerte zur Dosisreduktion sind für die einzelnen NOAKs unterschiedlich definiert. Hierbei gilt es aufzupassen.

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