Gendermedizin

Länger leben dank Gleichstellung?

Männer leben in Deutschland dort am längsten, wo es eine stärkere Gleichstellung von Frauen und Männern gibt. Ein Zusammenhang ist jedoch fraglich.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Eine stärkere Gleichstellung von Frauen und Männern schwächt womöglich Geschlechterstereotypen und könnte Männer dadurch indirekt von einem gesundheitsschädlichen Lebensstil abhalten.

Eine stärkere Gleichstellung von Frauen und Männern schwächt womöglich Geschlechterstereotypen und könnte Männer dadurch indirekt von einem gesundheitsschädlichen Lebensstil abhalten.

© GiZGRAPHICS / Fotolia

BIELEFELD. Die Lebenserwartung von Männern ist bekanntlich deutlich geringer als die von Frauen – in Deutschland liegt die Differenz derzeit bei rund fünf Jahren.

Ein Großteil der Übersterblichkeit bei Männern unter 70 Jahren lässt sich auf prinzipiell vermeidbare Ursachen wie Herzkreislauferkrankungen, Suchterkrankungen (Alkohol, Rauchen), deren Folgen (Lungenkrebs, Leberschäden) sowie Unfälle und Suizide zurückführen.

Mehr als 75 Prozent der männlichen Übersterblichkeit seien durch nichtbiologische Faktoren bedingt, berichten Forscher der Universität Bielefeld und des Robert Koch-Instituts.

Ein Grund dafür könnten Rollenmodelle sein, die Männer zu einem erhöhten Risikoverhalten verleiten. Eine stärkere Gleichstellung von Frauen und Männern schwächt solche Geschlechterstereotypen vielleicht und hält damit indirekt Männer von einem gesundheitsschädlichen Lebensstil ab.

Wohlstand als wichtiger Faktor

Nach Analyse bundesweiter Daten sehen die Forscher Differenzen bei der Gleichstellung in den einzelnen Ländern. Dabei leben Männer in den Ländern mit geringer Geschlechterungleichheit deutlich länger.

Ermittelt wurde diese nach dem Gender Inequality Index (GII) der UN, mit dem sich Gesundheit und Lebenserwartung getrennt betrachtenlassen.

Möglicherweise liegt das aber schlicht am Wohlstand: Die Lebenserwartung von Männern und der GII erreichen vor allem in den reichen Bundesländern günstige Werte. Der GII reicht von 0 Prozent – keine Ungleichheit beim Zugang zu Ressourcen und politischer Teilhabe – bis 100 Prozent: maximale Benachteiligung von Frauen. Nach UN-Angaben variiert der Index zwischen 4 Prozent (Schweiz) und 77 Prozent (Jemen).

In der aktuellen Studie (Bundesgesundheitsbl. 2019; 62: 943–51) wurde nun der GII für die einzelnen Bundesländer in Beziehung zur Lebenserwartung von Männern gesetzt.

Für die meisten GII-Faktoren gab es kaum Unterschiede zwischen den Bundesländern. Die bestehenden GII-Differenzen waren vom Anteil der Frauen im Parlament (21 Prozent in Baden-Württemberg, 40 Prozent in Rheinland-Pfalz) sowie der Geburtenrate bei den 15- bis 19-Jährigen (5,1/1000 in Baden-Württemberg, 16,3/1000 in Sachsen-Anhalt) bestimmt.

Gleichberechtigung: Bayern vorne

Am niedrigsten lag der GII-Wert mit 6,5 Prozent in Bayern, am höchsten mit 12,1 Prozent in Sachsen-Anhalt. Die höchste Lebenserwartung erreichen Männer in Baden-Württemberg (79,5 Jahre) gefolgt von Bayern, am niedrigsten ist sie in Sachsen-Anhalt (76,2 Jahre).

Insgesamt ergibt sich eine lineare Korrelation zwischen GII und der Geschlechterdifferenz bei der Lebenserwartung. Allerdings fällt Baden-Württemberg aus dem Rahmen: Das Bundesland liegt beim GII aufgrund des geringen Frauenanteils im Parlament eher im Mittelfeld, die Lebenserwartung für Männer ist dort jedoch am höchsten und die Differenz zu der von Frauen am geringsten.

Noch besser scheint die Geburtenrate bei Minderjährigen mit geringer männlicher Lebenserwartung zu korrelieren. In Baden-Württemberg ist die Zahl der Teenager-Mütter am geringsten (5,1/1000), in Sachsen-Anhalt am höchsten.

Das ist jedoch vor allem ein Indikator für Armut und mangelnde Bildung. Diese Faktoren könnten wiederum das erhöhte Risikoverhalten unter Männer erklären. So ergibt sich der Studie zufolge auch ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Geschlechterdifferenz bei der Lebenserwartung und dem Bruttoinlandsprodukt (BIP): Je höher das BIP, desto eher gleicht die Lebenserwartung der Männer derjenigen der Frauen.

Die Arbeitslosenquote und die Lebenserwartung

Ähnliches gilt umgekehrt für die Arbeitslosenquote: Je höher diese ist, umso geringer ist die männliche Lebenserwartung. Allerdings bleibt der Zusammenhang zwischen GII und Lebenserwartung bei Männern bestehen, wenn das BIP berücksichtigt wird.

Letztlich leben Männer in den wirtschaftlich starken Bundesländern am längsten, welche auch die geringste Geburtenrate unter Minderjährigen haben – und umgekehrt. Hier kommt das ökonomisch allzu bekannte Ost-West- und Nord-Süd-Gefälle zum Tragen.

Die Schlussfolgerung der Studienautoren, dass die „gefundenen Zusammenhänge zeigen würden, dass Geschlechtergleichstellung auch in kleinräumiger Betrachtung für Lebenserwartungsunterschiede relevant ist“ dürften allerdings reichlich gewagt sein.

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Politik, nicht Wissenschaft

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