Fünf Pulsschläge reichen

Blutdruckmessung bald ohne Manschette?

Langsam aber sicher nimmt die Zuverlässigkeit der manschettenfreien Blutdruckmessung zu. Sind die Tage der Blutdruckmanschette zur Selbstmessung gezählt?

Philipp Grätzel von GrätzVon Philipp Grätzel von Grätz Veröffentlicht:
Um Blutdruck zu messen, gibt es mit der photoplethysmographischen Methode jetzt auch eine optische Möglichkeit.

Um Blutdruck zu messen, gibt es mit der photoplethysmographischen Methode jetzt auch eine optische Möglichkeit.

© robotcity / stock.adobe.com

Die digital unterstützte Blutdruckselbstmessung hat unter Hypertonie-Experten viele Anhänger. Kein Wunder, besser als handschriftliche Notizen sind die digitalen Blutdrucktagebücher allemal, sofern sie ihre Daten aus qualitätsgesicherten Messgeräten beziehen.

Typischerweise sind das klassische Blutdruckmessgeräte, die mit einem Funkchip ausgestattet werden, mit dem sie die oszillometrisch erhobenen Messwerte an mobile Endgeräte oder gleich in die Cloud schicken.

Weniger enthusiastisch reagiert die Branche bisher auf die zweite Evolutionsstufe der digitalen Blutdruckmessung. Dabei wird der Blutdruck optisch, genauer photoplethysmographisch, gemessen. Die auf Riva-Rocci zurückgehende Kompression der Armarterien fällt bei diesem Verfahren genauso weg wie die auf Korotkoff zurückgehende Auskultation des systolischen/diastolischen Blutdruckwerts beziehungsweise – in der Selbstmessung – die oszillometrisch-manometrische Messung.

Warum eine photoplethysmographische Messung reizvoll ist, liegt auf der Hand: Weil keine Manschette nötig ist, nimmt das Equipment wenig Platz weg. Mobile Einsatzszenarien, aber auch Szenarien, bei denen der Blutdruck häufig hinter einander gemessen werden soll, lassen sich damit komfortabler umsetzen.

Ein bisschen in Verruf geraten ist die photoplethysmographische Blutdruckmessung durch einige Apps, die Smartphone-Kamera und Blitzlicht für die Messung nutzen, ohne sich groß um eine Medizinproduktezertifizierung zu kümmern.

Fingerling statt Manschette

Es geht also nicht um "Handy-Auflegen". In der Zeitschrift "JACC: Basic to translational Science" berichten japanische Kardiologen zusammen mit IT-Experten des primär in der Automobilbranche verorteten Konzerns Denso Corporation jetzt über die Validierung eines neues manschettenfreien Blutdruckmessverfahren bei 35 Patienten (2017; 2:631-42). Das Verfahren nutzt einen separaten Sensor und eine separate Lichtquelle.

Die Patienten erhalten vielmehr eine Art Fingerling, der über den Zeigefinger gestülpt wird. Nagelseitig befindet sich die Lichtquelle, eine 940nm-Diode. Auf der Seite der Fingerbeere befindet sich ein Photodetektor mit einer Aufnahmefrequenz von 200 Hertz. Der Blutdruck wird mit Hilfe eines Algorithmus aus den Lichtveränderungen im Wechsel des Pulsschlags berechnet.

Messung dauert fünf Pulsschläge

Die Validierung des Verfahrens erfolgte nicht irgendwie, sondern anhand der IEEE-Leitlinie 1708-2014. Die orientiert sich an den Bewertungskriterien und Empfehlungen der European Society of Hypertension und der AAMI, einer US-amerikanischen Gesellschaft für Medizinprodukte. Kurz gesagt erfolgte die photoplethysmographische Messung über fünf Pulsschläge hinweg, und sie wurde verglichen mit einem mit zwei unterschiedlichen Verfahren – Auskultation nach Korotkoff und Oszillometrie – jeweils simultan gemessenen Manschettenblutdruck.

Gemessen wurde in Ruhe und unter dynamischen Bedingungen, außerdem gab es eine erneute Messreihe nach einem Monat, um die Reproduzierbarkeit zu erfassen. Schließlich wurden auch noch zwei klinische Studien durchgeführt, in denen der Einfluss der unterschiedlichen Messverfahren auf die Schlafqualität erhoben wurde, festgemacht an Fragebögen und am EKG-Verhalten.

In Summe konstatieren die Autoren eine hohe Zuverlässigkeit und Reproduzierbarkeit der manschettenlosen Messung gemessen am Standard, der Messung mit Manschette. Die Patientenpräferenz war zudem eindeutig: Zumindest bei nächtlichen Blutdruckmessung wird die manschettenfreie Messung klar bevorzugt. Die Patienten schlafen nicht länger, aber die an der EKG-Variabilität festgemachte Schlafqualität war besser.

Trotz dieser guten Ergebnisse äußern sich Dr. Florian Rader und Dr. Ronald Victor vom Hypertension Center of Excellence am Cedars-Sinai Heart Institute in Los Angeles in einem begleitenden Editorial dezidiert zurückhaltend, unter anderem indem sie daran erinnern, dass sich bei der Blutdruckmessung seit rund einem Jahrhundert nicht viel geändert habe.

Verfrüher Abgesang auf Manschette?

Als allerersten Einwand fällt ihnen ein, dass einige Co-Autoren Interessenkonflikte hätten, was für Studien im Bereich Hypertensiologie allerdings nicht besonders unüblich ist und von den Autoren auch nicht verheimlicht wird. Ein technischer Einwand bezieht sich darauf, dass die photoplethysmographische Messung derzeit noch anhand von Manschettenmessungen kalibriert werden muss.

 Ganz ohne Manschette geht es bei diesem Verfahren im Moment also nicht. Auch sei unklar, wie valide die Messungen sind, wenn sie nicht in ruhender Position stattfinden, sondern etwa in den für Wearable-Messungen typischen mobilen Szenarien. Insgesamt sehen die beiden Experten daher noch keinen Grund für einen Abgesang auf Riva-Rocci, Korotkoff und Co.

Weitere Infos rund um die Kardiologie: www.springermedizin.de

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