Studie

Sollten Blutdrucksenker vor dem Schlafen eingenommen werden?

Wissenschaftler haben die Relevanz des nächtlichen Blutdrucks untersucht – und haben große Unterschiede zum Druck am Tag gefunden. Das ist auch für die Therapie relevant, denn einer der beiden Werte sagt deutlich weniger über das Infarkt- und Insultrisiko aus.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Bei Patienten, die ihre Blutdrucksenker vor dem Schlafen einnahmen, war die Rate für kardiovaskuläre Ereignisse um 50 Prozent geringer als bei Patienten, die die Medikamente tagsüber einnahmen.

Bei Patienten, die ihre Blutdrucksenker vor dem Schlafen einnahmen, war die Rate für kardiovaskuläre Ereignisse um 50 Prozent geringer als bei Patienten, die die Medikamente tagsüber einnahmen.

© YakobchukOlena / stock.adobe.

VIGO. Blutdruckmessungen im Schlaf finden aus naheliegenden Gründen eher selten statt, am häufigsten wird der Blutdruck daher in der nächtlichen Ruhephase während 24- oder 48-Stunden-Messungen mit ambulanten Systemen erfasst. Dabei zeigt sich Erstaunliches: Eine nächtliche Hypertonie sagt deutlich mehr über das kardiovaskuläre Risiko aus als ein erhöhter Blutdruck in der Praxis oder tagsüber zu Hause.

Auch fällt das kardiovaskuläre Risiko besonders stark, wenn es gelingt, den nächtlichen Druck zu senken, berichten Chronobiologen und Ärzte um Dr. Ramón Hermida von der Universität in Vigo, Spanien.

Die Experten stützen ihre Aussage auf die Resultate des galizischen Hygia-Projekts mit 40 Zentren und über 18.000 erwachsenen Teilnehmern. Mehr als 15.600 hatten zu Beginn der Studie eine Hypertonie, knapp 10.000 waren deswegen zuvor nicht behandelt worden (Eur Heart J 2018; online 10. August).

Alle neu diagnostizierten Hypertoniker wurden nach einer Basisuntersuchung auf Antihypertensiva eingestellt. Ein Teil der Hypertoniker sollte zumindest einen der verordneten Blutdrucksenker abends vor dem Schlafengehen einnehmen, die übrigen nur tagsüber.

Blutdruck über Jahre beobachtet

Bei allen Patienten wurde zu Beginn sowie bei den mindestens jährlichen Nachuntersuchungen dreimal der Blutdruck in der Praxis gemessen. Anschließend erhielten sie – auch bei den Nachuntersuchungen – für 48 Stunden ein ambulantes Blutdruckmesssystem, das alle 20–30 Minuten eine Messung vornahm. Dadurch ließen sich Veränderung beim Tages- und Nachtdruck über mehrere Jahre beobachten.

Die Teilnehmer waren zu Beginn im Mittel 59 Jahre alt, hatten im Schnitt einen BMI von 29 und waren zu 43 Prozent adipös. 21 Prozent der Teilnehmer hatte einen Diabetes und 9 Prozent ein kardiovaskuläres Ereignis in der Vergangenheit.

Die Forscher um Hermida konnten nun Resultate aus den Jahren 2008 bis 2015 auswerten. Für alle Teilnehmer war eine Nachbeobachtungsdauer von mindestens einem Jahr erforderlich, im Median betrug sie 5,1 Jahre.

In dieser Zeit erlitten knapp 13 Prozent ein kardiovaskuläres und fast 7 Prozent ein schweres kardiovaskuläres Ereignis (kardiovaskulär bedingter Tod, Herzinfarkt, Schlaganfall, Herzinsuffizienz, koronare Revaskularisierung). Das waren in der Regel die älteren und multimorbiden Patienten.

Wie erwartet, zeigte sich auch ein klarer Zusammenhang zwischen den anfangs in der Praxis gemessenen Blutdruckwerten und der Ereignisrate: Patienten mit späteren kardiovaskulären Ereignissen hatten zu Beginn einen um 7 mmHg höheren systolischen und etwa 4 mmHg niedrigeren diastolischen Blutdruck als Studienteilnehmer ohne kardiovaskuläre Probleme.

Prognostisch wertvoll: Nachtdruck

Am deutlichsten waren jedoch die Unterschiede beim systolischen Blutdruck im Schlaf: Dieser lag bei den Patienten ohne Ereignisse zu Beginn um etwa 9 mmHg niedriger als bei denen mit später auftretenden kardiovaskulären Problemen.

Insgesamt war die Rate für schwere kardiovaskuläre Ereignisse bei Patienten mit einer systolischen Hypertonie (über 135 mmHg) während der ersten Praxismessungen um 34 Prozent, mit systolischer Hypertonie während der ersten Nachtmessungen (über 120 mmHg) um 62 Prozent erhöht. Der prognostische Wert der Nachtmessung war also deutlich höher.

Wie sich zeigte, hatten auch diejenigen Patienten einen deutlichen Vorteil, die zur Bettzeit Blutdrucksenker einnahmen. Bei ihnen war die Rate für schwere kardiovaskuläre Ereignisse um mehr als 50 Prozent geringer als bei solchen, die sämtliche Antihypertensiva tagsüber einnahmen.

Dies passt auch mit der Beobachtung zusammen, dass Patienten ohne nennenswerten nächtlichen systolischen Blutdruckabfall (weniger als 10 Prozent) mehr als doppelt so häufig kardiovaskuläre Probleme bekamen. Solche Patienten waren öfter in der Gruppe anzutreffen, die ausschließlich tagsüber Blutdrucksenker einnahm.

Auch bei Adjustierung gleiches Fazit

Wurden bekannte Begleiterkrankungen und kardiovaskuläre Risikofaktoren berücksichtigt, ergab sich ein ähnliches Bild: Die Aussagekraft der nächtlichen Blutdruckmessung war wesentlich höher als die einer Messung tagsüber oder in der Praxis.

Jede Erhöhung des nächtlichen systolischen Blutdrucks um eine Standardabweichung (1 SD) bei der Basismessung ging mit einer um 34 Prozent höheren kardiovaskulären Ereignisrate einher, 1 SD mehr Druck in der Praxis und bei der Tagesmessung führte zu einer Differenz von lediglich 19 und 20 Prozent. Schauten sich die Wissenschaftler um Hermida nur die letzte Erhebung im Nachbeobachtungszeitraum an, änderten sich die Werte nur marginal.

Gelang den Patienten eine nächtliche systolische Blutdrucksenkung um 1 SD im Laufe der Studie, war die kardiovaskuläre Ereignisrate um 25 Prozent reduziert, bei 1 SD Reduktion in der Praxis und tagsüber jeweils um 15 und 22 Prozent.

Wurden systolischer Praxis- und Tagesdruck als Kofaktoren in die Rechnung aufgenommen, so führt nach diesen Resultaten eine nächtliche Blutdrucksenkung um 1 SD unabhängig von den anderen Drücken zu einer um 29 Prozent niedrigeren Rate kardiovaskulärer Ereignisse.

Umgekehrt ergab sich keine signifikante Aussagekraft des Praxis- oder Tagesdrucks, wenn dabei der nächtliche Blutdruck berücksichtigt wurde. Entscheidend für das kardiovaskuläre Risiko scheint also vor allem der nächtliche Blutdruck zu sein.

Messung über ein bis zwei Nächte!

Deutlich wird dies auch, wenn man die Patienten nach erreichten systolischen Blutdruckwerten in Quintilen einteilt. Patienten im Quintil mit den höchsten Tagesdrücken haben den Studiendaten zufolge ein doppelt so hohes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse wie Patienten im Quintil mit den niedrigsten Blutdrücken. Bezogen auf die Nachtdrücke differierte das Risiko zwischen den Quintilen jedoch um mehr als das Sechsfache.

Als Konsequenz aus den Daten sollten Ärzte bei Hypertonikern zumindest einmal eine ambulante Blutdruckmessung über ein bis zwei Nächte vornehmen, um das wahre Ausmaß der Hypertonie sowie das kardiovaskuläre Risiko zu erfassen, schreiben die Studienautoren um Hermida. Vor allem aber sollten sie die Einnahme der Blutdrucksenker zur Bettzeit empfehlen.

Das Wichtigste in Kürze

  • Frage: Welche Aussagekraft hat ein tagsüber oder nachts gemessener Blutdruck?
  • Antwort: Ein nachts erhöhter Blutdruck ist für Herz und Gefäße gefährlicher als eine vergleichbare Druckerhöhung tagsüber.
  • Bedeutung: Hypertoniker sollten Blutdrucksenker vor allem zur Bettzeit nehmen.
  • Einschränkung: Ob nächtliche Zielwerte besser geeignet sind, das kardiovaskuläre Risiko zu senken, muss in weiteren prospektiven Studien geprüft werden.
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