Brisante Studie

Herzkatheter-Therapie bei stabiler KHK nicht wirksamer als Placebo?

Eine brisante Studie sorgt für Wirbel: Denn ihre Ergebnisse legen nahe, dass die symptomatische antianginöse Wirkung von Herzkatheter-Eingriffen bei stabiler KHK nicht viel mehr als ein Placeboeffekt sein könnte.

Peter OverbeckVon Peter Overbeck Veröffentlicht:
In der aktuellen Studie ist erstmals in der Geschichte der Herzkatheter-Medizin die PCI mit einer ebenfalls invasiven Scheinintervention als Placebokontrolle verglichen worden.

In der aktuellen Studie ist erstmals in der Geschichte der Herzkatheter-Medizin die PCI mit einer ebenfalls invasiven Scheinintervention als Placebokontrolle verglichen worden.

© BVMed.de

DENVER. Darüber dass perkutane Koronarinterventionen (PCI) bei stabiler Koronarerkrankung – anders als bei akutem Koronarsyndrom – keine Herzinfarkte und Todesfälle verhindern, sondern "nur" die Brustschmerz-Symptome verbessern, herrscht weitgehende Einigkeit. Doch jetzt wird dieser symptomatische Nutzen durch eine neue und bislang einzigartige Studie infrage gestellt.

Ihre Besonderheit: Erstmals in der Geschichte der Herzkatheter-Medizin ist die PCI mit einer ebenfalls invasiven Scheinintervention als Placebokontrolle – hier erfolgte keine Stent-Implantation – verglichen worden.

Vergleich mit einer Scheinprozedur

Das jetzt beim Kongress TCT 2017 in Denver präsentierte Ergebnis ist brisant: Mit Blick auf die symptomatische Wirkung – gemessen an der Verbesserung der körperlichen Belastungsfähigkeit – konnte kein signifikanter Unterschied zwischen echter PCI und PCI-Simulation festgestellt werden. Das Ergebnis hat in kurzer Zeit unter anderem in den sozialen Medien einen Sturm an Reaktionen ausgelöst.

In der zeitgleich im Fachblatt "The Lancet" publizierten Studie (dx.doi.org/10.1016/S0140-6736(17)32714-9) sind an fünf Zentren in Großbritannien insgesamt 200 KHK-Patienten mit koronarer 1-Gefäß-Erkrankung (Stenosegrad > 70 %) nach Randomisierung in verblindeter Form einer PCI oder einer Placebo-Prozedur unterzogen worden. In den sechs Wochen vor dem Eingriff waren alle Patienten bei sehr intensiver und in der Praxis so nicht üblicher Betreuung auf eine optimierte antianginöse Medikation eingestellt worden.

Kein Unterschied bei der Belastungsfähigkeit

Sechs Wochen nach dem Eingriff wurde die potenzielle Wirkung im Belastungstest ermittelt. In beiden Gruppen war in Relation zum Eingangstest eine Zunahme der Belastungszeit zu verzeichnen, die nur in der PCI-Gruppe signifikant war (28,4 vs. 11,8 Sekunden). Doch bestand zwischen den Gruppen mit PCI und PCI-Simulation hinsichtlich der Zunahme der Belastungszeit kein relevanter Unterschied: Die Differenz von 16,6 Sekunden zugunsten der PCI erwies sich als nicht signifikant (p=0,200). Auf Basis einer "konservativen" Studienplanung sollte ein Unterschied um 30 Sekunden aufgedeckt werden.

Dass dies nicht gelungen ist, liegt sicher nicht daran, dass es sich nur um triviale Koronarstenosen gehandelt hat. Messungen der prozentualen Stenosefläche und der hämodynamischen Relevanz der Stenosen (FFR-Messung) ergaben vielmehr, dass anatomisch und funktionell de facto schwere Koronarverengungen vorlagen. Auch wurde nach der Intervention per FFR-Bestimmung dokumentiert, dass sich die koronare Hämodynamik deutlich verbessert hatte. Stress-Echo-Untersuchungen lieferten zudem Hinweise auf eine Abnahme von Ischämien. Auf die Symptome wirkte sich all dies gleichwohl nicht entscheidend aus.

Müssen die Leitlinien geändert werden?

Ist die PCI bei stabiler KHK damit als reine Placebo-Therapie, die in den Leitlinien bezüglich ihres Stellenwerts abgewertet werden muss, definitiv überführt? Darüber wird es in nächster Zeit mit Sicherheit eine heftige und wohl auch emotional geprägte Kontroverse geben. ORBITA-Studienleiterin Dr. Rasha Al-Lamee aus London schien die diesbezügliche Bedeutung der Studie eher herunterspielen zu wollen: Nach ihrer Einschätzung würde eine entsprechende Änderung der Leitlinien "eine unglaublich große Überreaktion" darstellen.

Andere Experten sehen das ganz anders. Dr. David Brown, St. Louis, und Dr. Rita Redberg, San Francisco, bewerten die ORBITA-Ergebnisse in einem Begleitkommentar zur Studienpublikation im "Lancet" als "tief greifend und weitreichend". Nach ihrer Einschätzung hat ORBITA "keinen Nutzen der PCI im Vergleich zur medikamentösen Therapie bei stabiler KHK gezeigt" – selbst dann nicht, wenn die Angina pectoris refraktär gegenüber Medikamenten sei. Beide Experten fordern deshalb, dass "alle kardiologischen Leitlinien geändert werden sollten" im Sinne einer Herabstufung der PCI bei stabiler KHK.

Verweis auf Limitierungen

Dagegen werden die Befürworter der Herzkatheter-Therapie Sturm laufen. Sie werden sich bemühen, die de facto vorhandenen Limitierungen der Studie in den Vordergrund zu rücken. Da ist unter anderem zu nennen, dass die ORBITA-Ergebnisse repräsentativ nur für Patienten mit relativ unkomplizierter koronarer 1-Gefäßerkrankung bei guter linksventrikulärer Funktion sind und somit keine Extrapolation auf andere KHK-Patienten erlauben.

Als Kritik ist auch zu hören, dass nach der sehr intensiven und für die Praxis untypischen Optimierung der medikamentösen Therapie in der Vorphase der PCI viele Patienten bezüglich Symptomatik und Belastungsfähigkeit so gut dastanden, dass sich weitere Verbesserungen nur schwer hätten nachweisen lassen.

Nach Ansicht der ORBITA-Autoren war es höchste Zeit für die Studie. Sie erinnern daran, dass gerade invasive Therapieverfahren einen noch stärkeren Placeboeffekt haben können als Tabletten und verweisen auf einschlägige Erfahrungen mit der transmyokardialen Laser-Revaskularisation und der renalen Denervation. Der Anteil dieses Effekts an der symptomatischen Wirkung der PCI sei nun in der ORBITA-Studie erstmals offenbar geworden. Die Studie bestätige damit einmal mehr die Notwendigkeit, auch prozedurale Therapieverfahren in placebokontrollierten Studien zu untersuchen.

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Herzkatheter bei KHK: Eine kleine Studie mit großer Sprengkraft

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