Hintergrund

Schaufelt sich das Hirn sein eigenes Grab?

Ein Schlaganfall wirkt sich auf das Gehirn aus - das scheint trivial. Weniger selbstverständlich ist die umgekehrte Feststellung: dass die Pathogenese einer Apoplexie auch vom Gehirn ausgeht, indem es Risikofaktoren wie Adipositas, Hypertonie, und Rauchen steuert.

Von Angela Speth Veröffentlicht:
Im MRT wird deutlich: Dicke ticken anders als Dünne, etwa in Hirnarealen, die Essen, Hypertonie, Rauchen und Diabetes steuern.

Im MRT wird deutlich: Dicke ticken anders als Dünne, etwa in Hirnarealen, die Essen, Hypertonie, Rauchen und Diabetes steuern.

© Marco Stepniak/imago

Für die Hypothese, dass im Gehirn schon früh die Weichen Richtung Schlaganfall gestellt sind, finden Forscher mehr und mehr Anhaltspunkte, wie Professor Arno Villringer beim Internistenkongress in Wiesbaden erläutert hat.

Bei 20- bis 30-jährigen Probanden haben er und seine Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig den zerebralen Beitrag zur Adipositas untersucht, und zwar mit MRT.

Durch Voxel-basierte Morphometrie, die Hirnstrukturen nach Größe, Intensität, Form und Textur quantifiziert, fanden sie Veränderungen im orbitofrontalen Kortex: Die graue Substanz war bei dicken Männern und Frauen vermehrt.

Diese Hirnregion, die über Dopamin Belohnungssignale aussendet, hat mit der Wertschätzung von Reizen wie dem Geschmack zu tun, erläuterte Villringer.

Bei Personen mit Übergewicht ist dort zudem die Dichte der Rezeptoren verringert. Da beim Essen im Gehirn Dopamin ausgeschüttet wird, kommt es durch häufige üppige Mahlzeiten zur Überstimulation der Rezeptoren.

Daraufhin werden sie herunterreguliert, ein Mechanismus, wie er auch bei Suchtkranken bekannt ist.

Fettleibigkeit könnte eine Suchtkrankheit sein

Das hat zur Folge, dass zur dopaminergen Stimulation immer mehr und immer stärkere Reize benötigt werden, Dicke also immer mehr essen (müssen), um eine Belohnung zu empfinden.

Mit anderen Worten: Bei der Fettleibigkeit könnte es sich um die Variante einer Suchtkrankheit handeln.

Eine weitere, bei Adipösen veränderte Region ist das Putamen, das implizites Lernen und habituelles Verhalten regelt. Dort allerdings bestanden die Abweichungen nur bei Frauen, nicht aber bei Männern.

Das bedeutet: Bei pummeligen Frauen sind Gewohnheiten stärker verankert als bei schlanken, weshalb sie sich langsamer an Neues anpassen können.

Bestätigt haben Villringer und seine Kollegen das durch psychologische Tests, etwa zum Single-cue versus Multiple-Cue probility learning.

Dabei handelt es sich um eine Form des induktiven Schließens, die für Problemlösungen benötigt wird.

Die Hirnveränderungen bei Adipositas sind offenbar genetisch bedingt. Nachweislich mit Übergewicht assoziiert ist das FTO-Gen.

FTO-Gen-Träger ziehen kurzfristige Gewinne vor

Eine überraschende Korrelation ist, dass die Träger dieses Gens den Tests zufolge einen kurzfristigen Gewinn einem langfristigen vorziehen, etwa den kurzfristigen Genuss beim Essen den langfristigen Vorteilen von Schlankheit.

Zudem tendieren sie stärker zu risikoreichem Verhalten, wie sich bei der Iowa Gambling Task herausgestellt hat, einem psychologischen Test zu Entscheidungen und Risikofreudigkeit.

Jene Hirnzentren, die bei solchem Verhalten aktiv werden, sind bei Dicken ebenfalls anders strukturiert als bei Dünnen.

Aus all diesen Ergebnissen leitet Villringer die Theorie ab, dass eine genetische Risikokonstellation für Adipositas - die allerdings sehr heterogen und komplex ist - Hirnareale verändert.

Bei Umwelteinflüssen wie der ständigen Verlockung durch hochkalorische Nahrung essen diese Menschen übermäßig und nehmen zu. Die Fettpolster wiederum schädigen ihre (Hirn)Gefäße und erhöhen die Gefahr eines Schlaganfalls.

Ähnliche Zusammenhänge lassen sich nach Villringers Worten auch für den Risikofaktor Hypertonie nachzeichnen. Prädiktiv für erhöhten Blutdruck ist die verstärkte Reagibilität auf psychosozialen Stress, die sich etwa auch als Weißkittelhypertonie manifestiert.

Je ausgeprägter die Blutdruckantwort, desto aktiver die Hirnareale

Drei Hirnareale sind damit assoziiert, und zwar jene, die an der Verarbeitung von Emotionen und Konflikten beteiligt sind: anteriores Zingulum, Amygdala und Insula.

Je ausgeprägter die Blutdruckantwort auf Stress ausfällt, um so aktiver sind sie. Tierexperimente haben diese Befunde beim Menschen bestätigt: Ausschalten der Amygdala verhinderte eine Hypertonie.

Die überschießende neurovegetative Koppelung ist wohl ebenfalls genetisch determiniert und wird in einer stressigen Umwelt auf den Plan gerufen.

Auch die Spur zu erhöhtem Blutzucker lässt sich bis ins Gehirn verfolgen, ebenso fürs Rauchen, das ja durch eine verminderte mentale Kontrolle begünstigt wird.

Ein neuer Ansatzpunkt wäre daher die emotionale und kognitive Prävention der Risikofaktoren, sagte Villringer, etwa mit Biofeedback, Mindful Brain-Therapie oder Hirnstimulation.

Durch Blutdruckmessung unter Stress, Vermessung relevanter Hirnareale oder Bestimmung von Biomarkern könnte man Gefährdete identifizieren.

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