Thrombektomie bei Schlaganfall

Das "Gewebefenster" ist wichtig!

Warum nach sechs Stunden keine Thrombektomie mehr veranlassen, wenn es noch gute Chancen auf funktionelle Verbesserungen gibt? Das fragen sich wohl viele Neuroradiologen –und behandeln einige Insultpatienten auch nach dem vorgegebenen Zeitfenster.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
CT bei Apoplexie. Abgestorbenes Gewebe erscheint blau.

CT bei Apoplexie. Abgestorbenes Gewebe erscheint blau.

© All. Krkhs. Altona

Wird bei ischämischem Schlaganfall eine Thrombektomie mit Stentretriever vorgenommen ist einzig entscheidend, ob das von einem verstopften Hirngefäß versorgte Areal bereits weitgehend abgestorben ist oder ob es noch größere minderperfundierte Zonen gibt, die gerettet werden können. Zwar sinken mit der Zeit die Chancen, rettbares Gewebe im Perfusionsgebiet anzutreffen, doch kann eine solche Penumbra aus gefährdetem Gewebe um den Infarktkern bei einigen Patienten lange persistieren, etwa weil Kollateralen eine gewisse Notversorgung aufrechterhalten. Solche Patienten sollten dann auch nach sechs Stunden noch von dem Eingriff profitieren.

Genau dies konnte jetzt in der kontrollierten Interventionsstudie DAWN* eindrucksvoll gezeigt werden: Mit der Thrombektomie waren knapp die Hälfte solcher Insultpatienten nach drei Monaten funktionell unabhängig, ohne nur etwa jeder achte. An der Studie nahmen 206 zuvor funktionell kaum eingeschränkte Patienten (mRS** 0–1) aus 26 Zentren in den USA, Europa und Australien teil. Alle Patienten hatten einen Verschluss großer Hirngefäße (Carotis interna oder M1) sowie einen Symptombeginn 6 bis 24 Stunden vor der Behandlung (NEJM 2017; online 11. November).

Ausgeprägte Symptome bei kleinem Infarkt im CT

Ein weiteres Kriterium war eine ausgeprägte Penumbra um den Infarktkern. Diese bestimmten die Studienärzte um Dr. Raul Nogueira von der Emory University in Atlanta pragmatisch: Sahen sie im CT trotz ausgeprägter Symptome nur einen kleinen Infarkt, gingen sie von einer großen Penumbra aus. Dafür legten sie altersabhängig drei Situationen fest:

- Über 80-Jährige mussten einen NIHSS-Wert über 10 Punkte und ein Infarktvolumen unter 21 ml haben, - unter 80-Jährige entweder einen NIHSS-Wert über 10 Punkte und ein Infarktvolumen unter 31 ml oder

- einen NIHSS-Wert über 20 Punkte und ein Infarktvolumen zwischen 31 und 51 ml.

Das Infarktvolumen ermittelten die Ärzte per Diffusionsbildgebung oder Perfusions-CT. 107 Patienten wurden per Zufall der Thrombektomiegruppe zugeordnet, die übrigen 99 der Kontrollgruppe. Alle Patienten bekamen die bei solchen Schlaganfällen übliche medizinische Versorgung.

Im Schnitt waren die Patienten 70, etwa ein Viertel sogar über 80 Jahre alt, der mediane NIHSS***-Wert lag bei 17 Punkten. Das mediane Infarktvolumen war in der Kontrollgruppe mit 8,9 versus 7,6 ml etwas höher, dort waren die Betroffenen im Mittel 13,3 Stunden vor Behandlungsbeginn zuletzt ohne Insultsymptome angetroffen worden, 12,2 Stunden waren es in der Interventionsgruppe. Rund 60 Prozent der Patienten hatten einen Schlaganfall beim Aufwachen, dieser Anteil war in der Interventionsgruppe mit 67 versus 47 Prozent deutlich höher.

Fast jeder Zweite wieder funktionell unabhängig

Die Forscher wählten zwei primäre Endpunkte: Zum einen den Wert auf einer inversen mRS-Skala mit 0 (Tod) bis 10 Punkten (keine Beeinträchtigungen). Hier hatten die Patienten mit Thrombektomie nach 90 Tagen im Mittel einen Wert von 5,5 Punkten erreicht, in der Kontrollgruppe waren es 3,4 Punkte; der Unterschied erwies sich als signifikant.

Als zweiten primären Endpunkt nahmen sie die funktionelle Unabhängigkeit (0–2 Punkte auf der üblichen mR-Skala).

Das Ziel erreichten 49 Prozent mit Thrombektomie, aber nur 13 Prozent ohne – die "number needed to treat" lag dafür bei 2,8. Auch bei allen sekundären Endpunkten hatte die Thrombektomie Vorteile: Eine Rekanalisierung erreichten mit 77 vs. 39 Prozent deutlich mehr nach 24 Stunden, und das Infarktvolumen nahm nicht mehr zu, wohingegen es sich in der Kontrollgruppe mehr als verdoppelte. Dagegen gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen bei Hirnblutungen und Todesfällen.

Dass fast die Hälfte der Patienten nach drei Monaten funktionell unabhängig war, entspricht den Erfahrungen aus anderen Studien mit deutlich früherem Beginn der endovaskulären Behandlung, erläutert Professor Werner Hacke von der Universität Heidelberg in einem Editorial zur Studie.

Hacke verweist auf eine Metaanalyse, nach der in solchen Studien 46 Prozent der Patienten mit Thrombektomie einen mRS-Wert von 0–2 erreicht hatten. Die Resultate der DAWN-Studie spreche daher für ein "Gewebefenster" (tissue window) statt eines Zeitfensters (time window), nach dem sich Ärzte bei der Therapieentscheidung richten sollten. Allerdings gelte weiter das Prinzip "time is brain": "Es bleibt entscheidend, die Zeit vom Beginn eines Schlaganfalls bis zur Behandlung zu reduzieren, das verspricht die besten Ergebnisse", so Hacke. Für einige ausgewählte Patienten mit kleinem Infarktkern und großer Penumbra scheine eine späte Thrombektomie zu funktionieren. "Allerdings – soweit wir bislang wissen – nur für solche", so der Neurologe.

*DAWN: DWI or CTP Assessment with Clinical Mismatch in the Triage of Wake-Up and Late Presenting Strokes Undergoing Neurointervention with Trevor.

**mRS: modified Rankin scale

***NIHSS: National Institutes of Health Stroke Scale

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