Tinnitus

Am Ziel vorbeigerauscht

Bei Tinnitus verwendete Tongeneratoren zur Erzeugung eines weißen Rauschens schaden möglicherweise mehr, als dass sie den Patienten nutzen, wie US-Ärzte vermuten. Wir zeigen alternative Strategien gegen Tinnitus auf.

Peter LeinerVon Peter Leiner Veröffentlicht:
Eine Langzeitrauschbehandlung löst offenbar eine Hyperaktivität in der zentralen Hörbahn aus. Die Folge: Hörwahrnehmungsstörungen.

Eine Langzeitrauschbehandlung löst offenbar eine Hyperaktivität in der zentralen Hörbahn aus. Die Folge: Hörwahrnehmungsstörungen.

© axel kock / Fotolia

SAN FRANCISCO. Es wird geschätzt, dass etwa 13 Millionen Menschen in Deutschland unter Tinnitus leiden. Eine Option, diese Ohrgeräusche zu bekämpfen, ist die Behandlung mit einem Rauscher, also einem Tongenerator, der das sogenannte weiße Rauschen erzeugt, mit dem die akustischen Hintergrundinformationen erhöht werden.

Solche Hörgeräte, die beidseitig getragen werden, sollen dazu führen, dass der Tinnitus nicht mehr wahrgenommen wird. In der aktuellen, bis 2020 gültigen und derzeit überarbeiteten S3-Leitlinie "Chronischer Tinnitus" heißt es allerdings dazu: "Eine Empfehlung von Rauschgeneratoren/Rausch-CD für die Indikation Tinnitus kann nicht ausgesprochen werden."

Pathophysiologische Argumente

Dr. Mouna Attarha von der Universität von Kalifornien in San Francisco und ihre Kollegen liefern nun pathophysiologische Argumente dafür, dass mit solchen Rauschgeneratoren, die alle Frequenzen erzeugen, eher Schaden angerichtet wird, als dass sie die Symptome linderten (JAMA Otolaryngol Head Neck Surg 2018; online 30. August).

Sie verweisen unter anderem darauf, dass eine Langzeitrauschtherapie zu den gleichen anatomischen und physiologischen Änderungen führt wie Tinnitus. Außerdem löse die Therapie eine Hyperaktivität in der zentralen Hörbahn aus und dies führe wiederum zu einer Reihe von Hörwahrnehmungsstörungen. Das betreffe vor allem die zeitliche Verarbeitung der gehörten Töne, die für das Sprachverständnis und die Erkennung spezifischer Signale innerhalb eines Rauschens bedeutsam ist.

Als eine alternative Strategie bei Tinnitus, die es ihrer Ansicht nach weiter zu erforschen gelte, verweisen die Ärzte auf die Stimulation mit strukturierten Frequenzen, wie sie etwa in Musik und Sprache vorhanden sind. Dadurch komme es zu Veränderungen der zentralen Hörbahn, die der Wirkung des Rauschens gegengesetzt sind. In tierexperimentellen Studien sei die Hypothese bestätigt worden.

In ersten Untersuchungen bei Patienten seien vielversprechende Ergebnisse mit Musik erzielt worden, die auf das Tinnitusmuster individuell abgestimmt war. Als Beispiel nannten die Ärzte die Verwendung von Musik ohne jene Frequenzen, die der Tinnitusfrequenz benachbart ist.

Dadurch sei die tinnitusassoziierte neuronale Hyperaktivität verhindert worden. Indem Patienten kurzen Tönen mit Frequenzen unter- und oberhalb des Tinnitustons ausgesetzt wurden, konnte erreicht werden, dass die Patienten den Tinnitus als weniger laut und störend empfanden.

Kognitives Training

Auf die Beeinflussung der Neuroplastizität setzt das computergestützte kognitive Training mit der Methode BrainHQ. In einer offenen randomisierten Studie gelang es den Patienten nach einem Training über 40 Stunden den Tinnitus weitgehend zu kontrollieren, wie die Wissenschaftler um Attarha berichten.

In der Folge normalisierte sich die Schlafqualität der Patienten und die Verrichtung ihrer täglichen Aktivitäten. Eine weitere Möglichkeit, Einfluss auf die neuronale Plastizität zu nehmen, ist die neuronale Langzeitdepression durch bestimmte Frequenzen, wodurch die synaptischen Verbindungen geschwächt werden.

Schließlich wurde auch die elektrische Stimulation des Vagusnervs in Tierversuchen als Strategie bei Tinnitus geprüft. Dabei erfolgt die Stimulation gleichzeitig mit der Präsentation von Frequenzen, die über oder unter der des Tinnitus liegen. Dadurch verkleinerten sich die Hirnareale, die den Tinnitus repräsentierten, sodass er nicht mehr wahrgenommen wurde. In einer Fallstudie profitierte ein Tinnituspatient tatsächlich von dieser Methode (Otol Neurotol 2015; 36; 575–580).

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