INTERVIEW

"Wir übernehmen Verantwortung für uns selbst und andere"

In Deutschland ist die Prävention von HIV-Infektionen erfolgreich. Dennoch gibt es nun mehr heterosexuell erworbene HIV-Infektionen als früher. Die Prävention bleibt daher eine wichtige Aufgabe betont Professor Reinhard Kurth im Gespräch mit Philipp Grätzel von Grätz von der "Ärzte Zeitung".

Veröffentlicht:

Ärzte Zeitung: Der Welt-AIDS-Tag steht dieses Jahr unter dem Motto: "Stop AIDS. Keep the promise." Was verbirgt sich dahinter?

Professor Reinhard Kurth: Das Motto greift ein Versprechen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2001 auf. Damals wurde der Global Fund gegen Malaria, Aids und Tuberkulose ins Leben gerufen. Die Weltgemeinschaft hatte sich in diesem Zusammenhang verpflichtet, jährlich zehn Milliarden US-Dollar zur Bekämpfung der drei Erkrankungen zur Verfügung zu stellen. Das wurde bisher nicht erreicht. In Deutschland wurde das Motto, das ja auch das Motto der Welt-Aids-Kampagnen bis zum Jahr 2010 ist, um den Zusatz "Gemeinsam gegen Aids: Wir übernehmen Verantwortung für uns selbst und andere" ergänzt. Damit soll verdeutlicht werden, daß sowohl individuelle Schutzmaßnahmen als auch gesellschaftliche Prävention und Aufklärung weiter nötig bleiben.

Ärzte Zeitung: Die Zahl der HIV-Neuinfektionen hat sich in Deutschland 2006 stabilisiert. Läßt sich daraus schon ein Trend ablesen?

Kurth: Bei Männern, die Sex mit Männern haben, scheint der in den letzten Jahren zu beobachtende Anstieg der HIV-Erstdiagnosen mittlerweile in allen Regionen in ein Plateau überzugehen. Homosexuelle sind mit 62 Prozent der HIV-Neudiagnosen nach wie vor die größte Gruppe. Erstmals seit 2001 stellen im ersten Halbjahr 2006 Personen, die ihre HIV-Infektion durch heterosexuelle Kontakte erworben haben und nicht aus Hochprävalenzländern stammen, mit 17 Prozent die zweitgrößte Betroffenengruppe dar.

Ärzte Zeitung: Betrachten wir die weltweite Situation: Gibt es Zeichen dafür, daß sich die Infektionsquote in Regionen wie dem südlichen Afrika langsam stabilisiert?

Kurth: Es gibt Hinweise, daß in einigen Ländern Sättigungseffekte auftreten. Wir können aber keine einheitliche Prävalenz nennen, ab der sich das HI-Virus in einer Bevölkerung nicht mehr weiter ausbreitet. Das hängt von vielen kulturellen und gesellschaftlichen Faktoren ab. Für Afrika südlich der Sahara halten Epidemiologen eine Prävalenz von bis zu 60 Prozent für denkbar. Die übrigen 40 Prozent wären dann jene, die monogam mit Nicht-Infizierten leben oder keinen Geschlechtsverkehr haben. Daß das nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, zeigt das Beispiel Botswana, ein Land, das in den vergangenen Jahren durch massive Aufklärungskampagnen von sich reden gemacht hat. Mit ein Grund: Bei den 15- bis 45jährigen hatte die Prävalenz hier schon bei 45 Prozent gelegen.

Ärzte Zeitung: Wo steigt die Zahl der HIV-Neuinfektionen derzeit am stärksten?

HIV im Internet

www.euro.who.int/ document/E87777.pdf Das Buch "HIV/Aids in Europe" der WHO im Internet beleuchtet die Infektion aus biomedizinischer, gesellschaftlicher, kultureller und ökonomischer Perspektive.

www.hiv.net Die Website ist eine Fundgrube für jeden, der sich umfassend über HIV und Aids informieren will.

www.rki.de Das Robert-Koch-Institut veröffentlicht Daten zur HIV/Aids-Epidemiologie in Deutschland sowie Richtlinien zur Therapie.

www.dagnae.de Die Deutsche Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV- Infizierter e. V. bietet Links zu Leitlinien und präsentiert gesundheitspolitische Themen. 

Kurth: Rein prozentual gesehen in Osteuropa und Zentralasien. Das ist aber ein statistischer Effekt, weil die absoluten Zahlen dort noch relativ gering sind. In der Russischen Föderation liegt die Prävalenz nach Angaben von UNAIDS aber auch schon bei 1,1 Prozent in der erwachsenen Bevölkerung. Und das bedeutet, daß fast eine Million Menschen dort infiziert sind.

Ärzte Zeitung: Viele Hersteller von antiviralen Medikamenten geben ihre Präparate in bedürftigen Ländern günstig ab. Auch Stiftungen investieren hohe Summen. Haben diese Aktionen Erfolg?

Kurth: Alles in allem hat sich die Versorgungssituation in den Entwicklungsländern noch nicht genug verbessert. Das von der WHO vorgegebene Ziel, bis Ende 2005 in Entwicklungsländern drei Millionen Menschen antiretroviral zu behandeln, wurde deutlich verfehlt. Im Moment werden dort etwa 1,5 Millionen Menschen behandelt von mindestens 35 Millionen Infizierten. Das liegt aber nicht nur am Geld, sondern auch daran, daß die Infrastruktur fehlt. Mittlerweile ist die Einnahme der Präparate ja sehr viel komfortabler geworden. Aber selbst eine zweimal tägliche Einnahme kontinuierlich zu gewährleisten, ist in vielen Regionen sehr schwierig.

Ärzte Zeitung: Seit der Etablierung der hochaktiven antiretroviralen Therapie hat sich keine grundsätzlich neue Therapie mehr durchgesetzt. Wie beurteilen Sie die Aussichten einer Impfung gegen HIV?

Kurth: Zunächst einmal ist es ein wirklich großer Erfolg, daß es überhaupt gelungen ist, die Infektion mit antiviralen Medikamenten unter Kontrolle zu bringen. Was die Hoffnung auf eine Impfung angeht, bin ich skeptisch geworden. Derzeit werden 30 Impfstoffkandidaten in klinischen Studien der Phase I/II getestet. Der große Durchbruch ist wahrscheinlich nicht dabei. Wir werden sicher in den nächsten fünf Jahren keinen Impfstoff in den Apotheken haben. Das heißt aber nicht, daß es nicht noch einige Konzepte für die Impfstoffentwicklung gibt, die getestet werden sollten. Vielleicht müssen wir aber auch unsere Ansprüche an eine Impfung zurückschrauben. Wenn es gelänge, durch eine Impfung zu verhindern, daß die Virusbelastung nach einer Infektion wesentlich zunimmt, so daß die Infizierten länger ohne Therapie leben können, dann wäre das auch schon ein Erfolg.

Ärzte Zeitung: Und wie steht es um die Gentherapie? Vor wenigen Wochen haben US-Forscher über eine Gentherapie-Serie bei fünf Aids-Patienten mit Resistenz gegen die gängigen Therapeutika berichtet. Sollten die Ansätze weiter verfolgt werden?

Kurth: In der Untersuchung wurden nur transiente Effekte beobachtet. Die Virusmenge ging zeitweilig zurück, und die Zahl der Immunzellen stieg etwas. Wie bei vielen derartigen Verfahren stellt sich auch hier die Frage, wie die Gene so in die Zelle eingebracht werden können, daß sie dort auch dauerhaft aktiv bleiben. Das ist bisher ungelöst.

Lesen Sie dazu auch: Große Wirkstoff-Palette sichert Therapie-Erfolg Aktion "Gemeinsam gegen Aids" stärkt Prävention HIV in Kürze HIV in Zahlen

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Etwas Licht und noch viel Schatten

ZUR PERSON

Virologe Professor Reinhard Kurth

Professor Reinhard Kurth ist Präsident des Robert-Koch-Institutes in Berlin. Außerdem ist Kurth kommissarischer Leiter des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte. Unter der Leitung des Virologen ist das Robert-Koch-Institut zur zentralen Einrichtung des Bundes für die gesundheitliche Vorsorge und Bekämpfung von Krankheiten geworden. Im Zentrum der Forschungen Kurths standen immer die Retroviren, zu denen auch HIV gehört. 

Mehr zum Thema

Forschung

Neue Methode zur Isolierung von HIV-Partikeln entwickelt

Aids- und Infektiologietage

Die wichtige Rolle der Hausärzte in der HIV-Behandlung

Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen
Lesetipps
Führen den BVKJ: Tilo Radau (l.), Hauptgeschäftsführer, und Präsident Michael Hubmann im Berliner Büro des Verbands.

© Marco Urban für die Ärzte Zeitung

Doppel-Interview

BVKJ-Spitze Hubmann und Radau: „Erst einmal die Kinder-AU abschaffen!“

Diakonie-Präsident Rüdiger Schuch.

© Rolf Schulten

Interview

Diakonie-Präsident Schuch: Ohne Pflege zu Hause kollabiert das System