Blockiert die frühere Pockenimpfung eine HIV-Infektion?

Ein 80 Jahre alter Impfstoff schützt offenbar bis zu einem gewissen Grad vor HIV-Infektionen. Zu dieser überraschenden Erkenntnis kamen US-Forscher, als sie der Frage nachgingen, wieso sich HIV seit den 50er Jahren weltweit so rasch ausbreiten konnte.

Dr. Thomas MeißnerVon Dr. Thomas Meißner Veröffentlicht:
Skarifikation: Bei der Pocken-Impfung wurde in die Haut geritzt. Hier eine Simulation mit Kochsalzlösung.

Skarifikation: Bei der Pocken-Impfung wurde in die Haut geritzt. Hier eine Simulation mit Kochsalzlösung.

© dpa

Bei der Vakzine handelt es sich um den Lebendimpfstoff gegen Pocken (Dryvax®), der 1931 erstmals zugelassen worden ist. Die schrittweise Rücknahme der Impfempfehlung gegen Pocken könnte nach Ansicht von Dr. Raymond S. Weinstein von der George Mason University im US-Staat Virginia und seiner Kollegen zur explosionsartigen Verbreitung der HI-Viren erst in Afrika, dann weltweit beigetragen haben (BMC Immunology 2010; 11: 23).

In der Tat fällt auf, dass HIV-1 zwar bereits irgendwann zwischen 1915 und 1941 erstmals in Afrika auftrat - HIV-2 erschien etwa eine Dekade später -, aber erst ab Ende der 50er Jahre eine deutliche Zunahme der Infektionen zu verzeichnen ist. Und das parallel zum Rückgang der routinemäßigen Pockenimpfung. 1980 erklärte die WHO die Pocken für ausgerottet. Bisherige Erklärungsversuche zur HIV-Verbreitung wie Kriege, unsterile medizinische Instrumente oder kontaminierte Polio-Vakzinen sind entweder ganz verworfen worden oder können das Phänomen nur unzureichend erklären. Die Hypothese Weinsteins und seiner Kollegen lautet, dass die Impfung oder auch die Koinfektion mit Pockenviren einen Schutz vor HIV dargestellt hat.

Grund dafür ist ein wichtiges Andockprotein auf der Zelloberfläche des Wirts, der Korezeptor CCR5. Viele Viren vom Typ HIV-1 benötigen dieses Protein, um in CD-4-Lymphozyten und in mononukleäre Zellen eindringen zu können. "Primäre HIV-1-Infektionen werden fast ausschließlich von CCR5-tropen HIV-1-Stämmen ausgelöst", betonen die US-Wissenschaftler in ihrer Publikation. Aber auch Pockenviren benötigen dieses Eiweißmolekül, um Zellen zu infizieren. Sind die Zellen bereits von Pockenviren "besetzt", haben HI-Viren scheinbar schlechte Chancen, ebenfalls diese Zellen für ihre Replikation zu benutzen. CCR5 verändert anscheinend seine Konformation, sodass HIV nicht eindringen kann.

Das jedenfalls legen die Versuche von Weinstein und seinen Mitarbeitern nahe. Sie hatten zehn gesunde Probanden gegen Pocken geimpft, zehn waren ungeimpft. Man nahm ihnen Blut ab und setzte ihre Blutzellen im Reagenzglas dem Angriff der HI-Viren aus. Stammten die Zellen von den geimpften Probanden, lag die Vermehrungsrate der HI-Viren bei einem Drittel bis einem Fünftel der Rate in Blutzellen der ungeimpften Versuchsteilnehmer.

Zwei Koautoren der Studie hatten in einer anderen Untersuchung festgestellt, dass noch 14 Monate nach einer Pockenimpfung HI-Viren sich in Zellkulturen von freiwilligen Versuchsteilnehmern nur schlecht vermehren können. Der Effekt scheint also langfristig anzuhalten.

Hat man den seit Jahrzehnten erwarteten Impfstoff gegen HIV also schon längst in der Hand? "Wir hoffen, dass der Impfstoff Dryvax® oder Komponenten des Impfstoffs nützlich für die Primärprävention von HIV sein könnte oder sogar dafür, das Fortschreiten der Krankheit bei bereits Infizierten zu verhindern", so Weinstein zur "Ärzte Zeitung". "Es wäre sehr schön, wenn wir einen effektiven und kostengünstigen Anti-HIV-Impfstoff hätten, der bereits für die Anwendung am Menschen zugelassen ist."

Allerdings sei es zu früh, um sicher sagen zu können, ob diese neuen Erkenntnisse therapeutische Konsequenzen haben werden. Schließlich entern nicht alle HIV-Stämme die menschlichen Zellen mit Hilfe von CCR5. So schützte die Pockenimpfung im gleichen Versuch nicht vor CXCR4-tropen HIV-1. CXCR4 ist ein anderer Oberflächenrezeptor, über den T-Zellen besonders in späten Phasen der HIV-Infektion befallen werden.

Dass Koinfektionen mit anderen Viren die HIV-Infektion abschwächen, ist keine neue Erkenntnis. So weiß man von bestimmten Herpesviren, dem Dengue-Virus oder Masernviren, dass sie HI-Viren hemmen. Dieser Effekt scheint ebenfalls zumindest teilweise über den CCR5-Rezeptor auf Zelloberflächen vermittelt zu sein. Die Bedeutung von CCR5 ist bereits länger bekannt. So gibt es einige wenige Menschen, die dieses Molekül aus genetischen Gründen nicht produzieren können - etwa ein bis drei Prozent der weißen Bevölkerung. Sie sind resistent gegen HIV-1-Befall. Inzwischen sind Medikamente (Maraviroc, Vicriviroc) entwickelt worden, die den CCR5-Rezeptor blockieren und damit die Verbreitung von HI-Viren im Körper von HIV-Patienten hemmen.

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