"Das Kondom hat keineswegs ausgedient"

In Deutschland sind etwa 73.000 Menschen HIV-infiziert. Die Zahl der Neu-Infektionen liegt etwa bei 2700 pro Jahr - auch für den HIV-Therapeuten Dr. Hans Jäger aus München noch immer zu hoch. Bei den am 16. März beginnenden 14. Münchner Aids- und Hepatitis-Tagen ist die HIV-Prävention eines der Schwerpunktthemen.

Dr. Hans Jäger

© Axel Griesch

Position: Inhaber einer HIV-Schwerpunktpraxis in München

Werdegang/Ausbildung: 1976 - 1981 Ausbildung zum Arzt für Innere Medizin, Schwerpunkt: Hämatologie.

Karriere: 1981 - 1983 Sloan Kettering Cancer Centre New York

1984 - 1989 Aufbau und klinischer Leiter der Ambulanz für Immunschwäche-Erkrankungen, Städtisches Krankenhaus München-Schwabing

1989 - 2012 Vorstand des gemeinnützigen Forschungsinstitutes KIS, Kuratorium für Immunschwäche in München

Wissenschaftlicher Leiter der Münchner AIDS-Tage und anderer wissenschaftlicher Fachtagungen

Ärzte Zeitung: Seit 1990 gibt es die Münchner Aids-Tage. Heute heißt die traditionsreiche Tagung "Münchner Aids- und HepatitisTage". Warum war die thematische Erweiterung erforderlich?

Dr. Hans Jäger: Es war schon bei den Vorgängerveranstaltungen so, dass der Schwerpunkt "HIV" fast jedes Mal durch den Schwerpunkt "Hepatitis" erweitert wurde, weil es eine ganze Reihe von Patienten gibt, die beide Infektionen haben.

Dieser Trend, dass beide Krankheitsbilder zusammen betrachtet werden, sehen wir auch in der Pharma-Industrie, wo fast alle virologischen Abteilungen, die sich bisher mit HIV befasst haben, bei den entsprechenden forschenden Pharmaunternehmen mit Hepatitis-Abteilungen zusammengegangen sind.

Ärzte Zeitung: Wie viele HIV-Infizierte haben in Deutschland eine Koinfektion mit HCV?

Jäger: Etwa 10 Prozent der HIV-Infizierten sind in Deutschland auch mit HCV infiziert. Im europäischen Schnitt liegt der Anteil der HIV/HCV- Koinfektionen bei circa 30 Prozent, weltweit ist von etwa 7 Millionen Koinfektionen auszugehen. Grundsätzlich gilt, dass die HCV-Infektion etwa 5- bis 10-mal häufiger ist als die HIV-Infektion.

Ärzte Zeitung: Im vergangenen Jahr war das Motto der Aids-Tage "HIV und Aids besiegen - Visionen der Heilung". In diesem Jahr tritt mehr die Prävention in den Vordergrund. Wird da nicht schon genug getan?

Jäger: Die vergangenen zwölf Monate waren dadurch gekennzeichnet, dass man einerseits gesehen hat, dass wir keine Impfung haben, die wir flächendeckend anwenden können. Andererseits beginnt eine gewisse Kondommüdigkeit sich breit zu machen.

Also mussten Strategien entwickelt werden, die aus der Biomedizin heraus auch in den Präventionsbereich hineinreichen. Das war zunächst vor drei Jahren beginnend die Beschneidung von Männern in Afrika.

 Das hat dazu geführt, dass eine ganz erhebliche Reduktion der Infektionsübertragung von Frauen auf Männer - dort ist die heterosexuelle HIV-Übertragung im Vergleich zu anderen Übertragungswegen die häufigste - bei den beschnittenen Männern stattgefunden hat.

Als Nächstes hat man gesehen, dass der Einsatz von Medikamenten, wie etwa bei der Malariatherapie zur Prophylaxe - als Präexpositionsprophylaxe (PrEP) bezeichnet - bei bestimmten Gruppen geeignet war, die Infektion zu vermeiden, wenn sie in einer Hochrisikosituation lebten, und zwar stärker bei Männern als bei Frauen.

Therapie als Prävention - in einer Studie mit etwa 1800 diskordanten Paaren, bei denen nur einer der beiden Partner HIV-infiziert war, hat sich gezeigt, dass eine 96-prozentige Reduktion der Infektionsrate im Vergleich zu den Nichtbehandelten stattgefunden hat.

Man kann also davon ausgehen, dass die Behandlung von Patienten in einer diskordanten Beziehung für den Partner einen direkten Schutzfaktor darstellt, und zwar den stärksten, den man bei der Prävention bisher sehen kann.

Ärzte Zeitung: Sie kündigen für die Tagung Präsentationen über ungewöhnliche Wege der HIV-Prävention an. Hat das Kondom ausgedient?

Jäger: Keineswegs hat das Kondom ausgedient. Wir sehen eine gewisse Kondommüdigkeit in vielen Ländern, auch in Deutschland, nicht so sehr beim Kauf - es werden weiterhin kräftig Kondome gekauft und wohl auch benutzt, allerdings häufig auch von Gruppen, die nicht unbedingt im Zentrum unserer Sorgen stehen.

Die heterosexuelle Bevölkerung ist gefährdet, aber in Deutschland natürlich längst nicht so stark wie schwule Männer. Südafrika ist das weltweit am stärksten von Aids betroffene Land. Dort gelang es in den letzten zehn Jahren, den Kondomgebrauch massiv zu steigern. Das war der wichtigste Faktor, der zur Halbierung der jährlichen Neuinfektionsrate führte.

Ärzte Zeitung: Die Tagung stellt in diesem Jahr die Erfahrungen in der Prävention bei Schülern stärker in den Vordergrund. Sind junge Menschen heute stärker gefährdet, sich mit HIV zu infizieren, als früher?

Jäger: Nein, das kann man nicht sagen. Man kann sogar sagen, dass Jugendliche die am geringsten gefährdete Gruppe sind. Aber: Auch da gibt es Ausnahmen. Wir haben zum Beispiel 16- und 18-jährige Patienten, die mit einer HIV-Infektion neu zu uns in die Praxis kommen.

Häufig sind das junge homosexuelle Männer, die ihr Schwulsein ausprobieren und dabei - gleich am Anfang - an jemanden geraten sind, der HIV-infiziert ist, und der sie mit HIV und oft meistens gleich auch noch mit dem Syphilis-Erreger angesteckt hat.

Das Interesse der Schüler und der Schulen an dieser Thematik ist groß. Die Gefährdungspotenziale sind zwar klein, aber nicht null. Dabei ist es natürlich für Schüler, die selbst schwul sind, ohne dass das offen in diesen Präventionsveranstaltungen besprochen werden kann, ganz besonders wichtig zu wissen, wie sie sich am besten schützen können. Hier sind Kondome ganz wichtig.

Das Umgehen mit Kondomen, das fast spielerische, tabufreie "Edutainment" bereits in der 4. oder 5. Schulklasse ist nicht nur im Zusammenhang mit HIV, sondern auch mit anderen sexuell übertragbaren Krankheiten wichtig.

Ärzte Zeitung: In Deutschland ist die Zahl der HIV-Neuinfektionen nach leichtem Anstieg 2005/2006 jetzt wieder gesunken - nur ein Intermezzo oder schon ein klarer Trend?

Jäger: Die Zahlen sind noch so gering unterschiedlich, dass man daraus keinen Trend erkennen kann. Wir haben etwa 2700 Neu-Infektionen pro Jahr in Deutschland. Meine Frage lautet allerdings eher: Warum haben wir noch so viele? Im europäischen Vergleich ist Deutschland eine glückliche Insel.

Wir gehören bezogen auf die Infektionshäufigkeit europäisch ins letzte Drittel, fast alle Länder im Süden Europas haben mehr HIV-Neu-Infektionen pro Jahr.

Wenn man aber sagt, dass Behandlung ein Schutzfaktor ist, dann ist aus meiner Sicht noch nicht ganz genau erklärbar, warum wir dennoch, nachdem ja die meisten HIV-infizierten Patienten, die eine Therapie erhalten, auch erfolgreich behandelt werden, eine relativ hohe, gleichbleibende Infektionsrate haben. 80 Prozent aller HIV-Infizierten in Deutschland werden antiretroviral behandelt, die allermeisten erfolgreich.

Bis zu 75 Prozent der Neu-Infektionen mit HIV sind in der Gruppe der schwulen Männer zu sehen. Die zweitgrößte Gruppe sind Menschen aus Endemiegebieten wie Afrika, die nach Deutschland kommen und gar nicht wissen, dass sie mit HIV infiziert sind.

Wenn wir sagen, wir wollen die HIV-Neu-Infektionsrate pro Jahr weiter verringern, dann betrifft das in allererster Linie die Gruppe der homosexuellen Männer, und dann ist es schwer verständlich, dass es insgesamt noch 2700 neu festgestellt HIV-Infektionen pro Jahr gibt.

Dabei geht es natürlich um jene Infizierten, die neu im Versorgungssystem auftauchen, die sich aber bereits einige Zeit früher schon infiziert haben können. Eventuell erklärt eine höhere Bereitschaft zum oft auch niedrigschwelligen Testangebot die Zahlen.

Ärzte Zeitung: Während der AidsTage wird in einem Seminar eine Antwort auf die Frage "Was machen Long-Term Non-Progressors richtig?" gesucht. Können HIV-Infizierte denn überhaupt den Infektionsverlauf so stark beeinflussen, dass sie viele Jahre asymptomatisch bleiben?

Jäger: Nein, das können sich nicht. Die Möglichkeiten, selbst individuell die eigene HIV-Infektion zu beeinflussen, sind sehr gering. Wir wissen, dass Ernährungsumstellungen so gut wie keine Auswirkung haben, allerdings auch, dass Sport deutliche positive Auswirkungen auf das Immunsystem haben kann.

Wenn Patienten fragen: "Was kann ich denn selber tun?" - eine wichtige Frage der Patienten -, dann ist Sport mit Abstand die in vielen Studien als wirksam belegte Maßnahme, die helfen kann.

"Long-Term Non-Progressors" sind Patienten, die sich mit einem HI-Virus infiziert haben, das quasi ein Papiertiger ist, oder die einen Wirtsmechanismus haben, der mit dem Aids-Erreger besser umgehen kann. Das sind aber eher genetische oder andere Faktoren, die nicht willentlich beeinflusst werden können.

Wir betreuen von München aus bundesweit in einer Studie 50 bis 60 solcher Patienten. Es ist also eine kleine Gruppe, in der über viele Jahre die Patienten das Virus selber kontrollieren können. In diesen Bereich geht natürlich ein Großteil der Forschung, um herauszufinden, ob man da was abgucken könnte für das große Ziel: die Heilung.

Der größte wichtigste neue Schritt in der HIV-Forschung ist jetzt die Heilung. Noch haben wir nicht das Elixier destilliert, das uns helfen würde zu verstehen, wie wir Erkenntnisse von den "Long-Term Non- Progressors" auch bei anderen Patienten anwenden können.

Ärzte Zeitung: Die HIV-Therapie ist sehr viel einfacher und verträglicher geworden. Mehr als zwei Dutzend Arzneien gibt es bereits, doch es wird weiter geforscht. Reicht das denn nicht aus, was bisher verfügbar ist?

Jäger: Wir haben heute im Vergleich zum Zeitpunkt vor 10 bis 15 Jahren eine sehr effektive Therapiesituation - sicherer und nebenwirkungsärmer für Ärzte und Patienten. Sehr viele Patienten, die neu behandelt werden, können mit nur einer Tablette pro Tag erfolgreich therapiert werden. Diese Therapie ist dazu noch gut verträglich. Das ist schon ein enormer Fortschritt.

Aber: Nein, wir sind noch nicht zufrieden. Denn es gibt im Körper Zellkompartimente, nicht groß mit nur etwa einer Million Zellen, in denen sich HIV versteckt. Das sind latent infizierte Zellpools, die wir mit unseren heutigen Medikamenten nicht erreichen.

Wir brauchen also neue Klassen von Medikamenten, die die latenten Zellpools mit den "Sleeper cells" erreichen und das Virus herauslösen, sodass es durch die verfügbaren Medikamente an der weiteren Replikation gehindert wird. Solange wir diese neuen Medikamente nicht haben, ist auch der Begriff Heilung nicht erreichbar.

Das ist der Hauptpferdefuß, an dem derzeit sehr intensiv geforscht wird. Es könnten Medikamente aus der Onkologie sein.

Wenn wir aber den relativ gesunden HIV-Infizierten ein solches Präparat aus der Onkologie geben, kommt eine Reihe ethischer Fragen auf, etwa: Kann man überhaupt einem "gesunden" HIV-Infizierten, der sich wohlfühlt, diese doch oft mit Nebenwirkungen verbundenen Medikamente zumuten? Ärzte Zeitung: Welche Medikamente wären das zum Beispiel? Jäger: Wir wissen aus der Krebsmedizin, dass Vorinostat zur Therapie von Patienten mit kutanen T-Zelllymphomen in ersten Studien einen Einfluss auf den Pool der latent HIV-infizierten Zellen hat.

Die Rate unerwünschter Wirkungen dieser Substanz ist glücklicherweise so gering, dass wir das auch ethisch sehr wohl verantworten können, die Arznei den HIV-Infizierten zu geben. Auch Disulfiram scheint eventuell einen Einfluss auf diese langzeitinfizierten Zellpools zu haben.

Das Interview führte Peter Leiner.

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