HIV-positiv

Hürden auf dem Weg zum "normalen" Leben

Die diesjährige Kampagne zum Welt-Aids-Tag hat das Motto "Positiv zusammen leben". Positive Botschaften sind gut. Sie dürfen aber nicht an Verharmlosung grenzen. Für eine "neue Sorglosigkeit" in Bezug auf HIV gibt es keinen Grund, trotz der erreichten Fortschritte.

Dr. Thomas MeißnerVon Dr. Thomas Meißner Veröffentlicht:
Hürden auf dem Weg zum "normalen" Leben

© Oliver Berg / dpa

Eine Gruppe junger Menschen lächelt in die Kamera. Sie halten ein Plakat: "Mit HIV kann ich leben. Weitersagen!" Ein Satz aus der diesjährigen Welt-Aids-Tags-Kampagne "Positiv zusammen leben". Der Slogan lässt sich so deuten: HIV ist heute nicht mehr unmittelbar lebensbedrohlich, vielmehr wird von einer fast normalen Lebenserwartung HIV-positiver Menschen ausgegangen. – Könnte man vielleicht aber auch ein schulterzuckendes "Ich bin positiv – na und?" heraushören? Besteht hier nicht die Gefahr der Verharmlosung?

Tief eingebrannte Bilder

Richtig ist, dass HIV-positive Menschen heute längst keine dem Tod geweihten, abgemagerten Männer mehr sind, die täglich 20 Tabletten schlucken müssen. Das Bild vom sterbenden, Aids-kranken Anwalt Andrew Beckett, verkörpert von Hollywood-Star Tom Hanks in "Philadelphia", hat sich offenbar tief eingebrannt ins kollektive Gedächtnis. Nur ist der Film inzwischen ein Vierteljahrhundert alt.

HIV-positive Männer und Frauen, die zunehmend versuchen, offen mit ihrer Infektion umzugehen und zu leben, sind im Alltag nach wie vor mit verbreiteter Unwissenheit, Vorurteilen und Diskriminierung konfrontiert. Dagegen wendet sich die gemeinsame Kampagne der Deutschen Aids-Hilfe und der Deutschen Aids-Stiftung, unterstützt von der Bundesregierung. Das ist gut so.

Viele Spätdiagnosen

"HIV kommt heute in meinem Leben nur vor, wenn ich morgens meine Tablette nehme, und wenn ich alle drei Monate zum Arzt gehe", sagt Christoph, einer der Protagonisten der Kampagne, in einem von den Initiatoren verbreiteten Interview. "Party-Stimmung auf einem Plakat zum Thema HIV – ist das nicht verharmlosend?", lautet die erste Frage. Antwort: "Nein, überhaupt nicht ... HIV ist kein Grund, nicht genauso zu leben, wie man das möchte und dabei auch jede Menge Spaß zu haben."

Zu den Fakten: Etwa 85.000 Menschen leben in Deutschland mit HIV. Schätzungsweise 13.000 wissen nichts von ihrer Infektion und tragen damit maßgeblich zu ihrer Verbreitung bei. Die Zahl der Neu-Infektionen liegt seit Jahren bei deutlich über 3000 pro Jahr. Schaut man sich den Kurvenverlauf der stets im Herbst veröffentlichten Daten des Robert Koch-Instituts (RKI) an, ist eine seit 2001 stetig zunehmende Anzahl jährlich gemeldeter HIV-Neuinfektionen zu erkennen.

Die Zahl der Spätdiagnosen bleibt unverändert. Etwa 1200 Menschen erfahren Jahr für Jahr erst dann von ihrer Infektion, wenn der Immundefekt bereits fortgeschritten ist. Das RKI geht derzeit von jährlich etwa 800 neuen Aids-Erkrankungen aus (Epidem Bull Nr. 39/2017).

Mehr Diagnosen bei über 50-Jährigen

Kürzlich berichtete "The Lancet HIV", dass sich in Europa immer häufiger ältere Menschen mit HIV infizieren. Etwa jede sechste Neudiagnose betreffe über 50-Jährige, besonders betroffen sei Deutschland. Es handelt sich überwiegend um Männer, die HIV zu 42 Prozent durch heterosexuelle Kontakte aufnehmen, während ja bisher überwiegend Männer, die Sex mit Männern haben, betroffen sind. Weil die Infektion in dieser Altersgruppe selten vermutet wird, wird sie oft erst spät erkannt (Lancet HIV 2017; 4: e514-e521).

Zeit für Sorglosigkeit? Sicher nicht! Und die Sache mit der fast (!) normalen Lebenserwartung stimmt auch nur unter einer ganzen Reihe von Bedingungen. Knackpunkt eins: frühe Diagnose und frühe Therapie. Es soll nicht mehr gewartet werden, bis die CD4-Zellzahl fällt, die antiretrovirale Kombinationstherapie muss sofort starten – Voraussetzung ist die frühe Diagnose. Punkt zwei: hohe Therapieadhärenz, gesunder Lebensstil und Vorsorge. Auch da wird es schwierig.

Krebsprävention wichtig

Dr. Christoph Mayr aus Berlin berichtete auf der 7. Münchner AIDS- und Hepatitis-Werkstatt im März 2017 davon, dass viele HIV-Patienten trotz oder gerade wegen ihrer Infektion nicht vom Rauchen lassen wollten. Dabei wäre das ein wichtiger Aspekt der Krebsprävention. Zu fragen ist, wie es mit Impfungen gegen Hepatitis B und gegen HPV aussieht, mit dem Screening auf Zervix- und Analkarzinom, auf Haut- und auf Leberkrebs, besonders wenn chronische Koinfektionen wie Hepatitis B und C vorliegen oder vorgelegen haben.

Im Jahre 2030 sollen drei Viertel der HIV-positiven Patienten über 50 Jahre alt sein. Sie werden voraussichtlich in mindestens ähnlichem Maße von Volkskrankheiten des Herz-Kreislauf-Systems, der Knochen oder von Diabetes betroffen sein wie die Durchschnittsbevölkerung.

Was "sagen" dann die Organsysteme nach jahrzehntelanger Einnahme antiretroviraler Kombitherapien? Wie wird sich das Interaktionspotenzial dieser Arzneien, wie wird sich die immunologische Situation HIV-Positiver in fortgeschrittenem Alter auf die Behandlung und den Verlauf der Volkskrankheiten auswirken?

Wissen können wir das heute noch nicht. Es ist gut zu hören, dass es immer weniger Kaposi-Sarkome oder ZNS-Lymphome bei HIV-Kranken gibt. Andererseits scheint die Häufigkeit von Hodgkin-Lymphomen, von Anal- und Zervixkarzinomen sowie von Bronchialkarzinomen zuzunehmen.

Normale Lebenserwartung? Sicher, statistisch lässt sich das errechnen. Seit in den 90er-Jahren "Philadelphia" in den Kinos lief, hat die Lebenserwartung HIV-infizierter Menschen um durchschnittlich zehn Jahre zugenommen. Ein heute 20-jähriger HIV-positiver Patient in Europa wird voraussichtlich 68 Jahre alt, liegt die CD4-Zellzahl nach einem Jahr Therapie über 350/µl, werden sogar 78 Jahre prognostiziert (Lancet HIV 2017; 8: e349-e356).

Begleiterkrankungen häufig

Das trifft allerdings nur auf Patienten in entwickelten Ländern zu und dort wiederum nur auf Patienten mit hohem sozioökonomischen Status. 10 bis 15 Prozent aller mit HIV in Deutschland lebenden Menschen leiden jedoch unter Begleiterkrankungen oder Nebenwirkungen der Therapie. Dies führt zu einer teils prekären ökonomischen Lage der Betroffenen, die sich mit fortschreitender Infektion verschlechtert.

Besonders HIV-positive Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund lebten häufig in Armut, so die Aids-Stiftung. Viele Frauen müssten alleinerziehend ein Kind mit durchbringen. Obwohl über 80 Prozent der HIV-Positiven in Deutschland Männer sind, waren 2016 mehr als die Hälfte der Antragsteller für Hilfen der Aids-Stiftung Frauen. Soziale und finanzielle Not wirkt sich negativ auf die Gesundheit aus und damit negativ auf die Lebenserwartung.

Fazit: Für eine "neue Sorglosigkeit" in Bezug auf HIV gibt es keinen Grund, trotz der erreichten Fortschritte. Die überfällige Enttabuisierung der Infektion in der Gesellschaft kann sich mittelbar günstig auf die Gesundheit HIV-positiver Menschen auswirken. Für eine normale Lebenserwartung müssen aber auch die Betroffenen selbst eine Menge tun.

Hürden für HIV-Positive

- 10 bis 15 Prozent aller mit HIV in Deutschland lebenden Menschen leiden unter Begleiterkrankungen oder Nebenwirkungen der Therapie.

- Etwa 1200 Menschen in Deutschland erfahren Jahr für Jahr erst dann von ihrer HIV-Infektion, wenn der Immundefekt bereits fortgeschritten ist.

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