Impfen

"Sehr solidarisch ist unser Volk nicht"

Die Masernwelle zeigt es: Viele Erwachsene in Deutschland sind nicht geimpft. Warum das so ist und wie sich die Impfquoten erhöhen lassen, schildert Dr. Jan Leidel, Vorsitzender der Ständigen Impfkommission, im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung".

Dr. Thomas MeißnerVon Dr. Thomas Meißner Veröffentlicht:

Dr. Jan Leidel

'Sehr solidarisch ist unser Volk nicht'

© Felten

Aktuelle Position: Vorsitzender der Ständigen Impfkommission (STIKO) beim Robert Koch-Institut Berlin.

Werdegang: Studium der Medizin in Gießen; Weiterbildung zum Arzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie sowie zum Arzt für öffentliches Gesundheitswesen; ab 1977 Leiter des Sachgebiets „Seuchenbekämpfung und Hygiene“ am Gesundheitsamt Köln; ab 1985 Leiter des Gesundheitsamtes Köln, seit 2009 im Ruhestand.

Engagement: seit 1993 Mitglied der STIKO und seit 2011 deren Vorsitzender; Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats „Infektionskrankheiten und Schutzimpfungen“ des Deutschen Grünen Kreuzes.

Ärzte Zeitung: Herr Dr. Leidel, Sie haben kürzlich erneut darauf hingewiesen, dass das Problem beim Impfen weniger die Kinder sind als die Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Wie steht es in Deutschland mit dem Impfstatus von Erwachsenen?

Dr. Jan Leidel: Das ist nicht so einfach zu beantworten, weil wir in Deutschland kein umfassendes Impfregister haben. Unsere Erkenntnisse stammen hauptsächlich aus Befragungen des Robert Koch-Instituts. Daraus geht hervor, dass es große Unterschiede gibt zwischen einzelnen Impfungen.

So haben etwa 75 Prozent der Erwachsenen einen Impfschutz gegen Tetanus, der nicht länger als zehn Jahre zurückliegt, gegen Keuchhusten dagegen nur 7,6 Prozent der Erwachsenen.

Selbst in Familien, in denen ein Säugling lebt, ist der Pertussis-Schutz bei weitem nicht ausreichend, er liegt bei 22 Prozent. Deswegen versuchen wir eine Kokonstrategie zu verfolgen, wonach alle Kontaktpersonen des Säuglings tatsächlich geimpft sind und ihn nicht anstecken können.

Gibt es gesicherte Erkenntnisse über die Gründe für die niedrigen, aber auch sehr unterschiedlichen Impfquoten bei Erwachsenen?

Leidel: Ich bin überzeugt, dass es sich vielfach weniger um die viel zitierte Impfmüdigkeit handelt, gerade bei wichtigen Impfungen wie Tetanus und Keuchhusten dürfte es schlicht Nachlässigkeit sein. Leider muss ich auch sagen, kümmert sich nicht jeder Hausarzt so intensiv um den Impfschutz seiner Patienten, wie ich mir das wünschen würde.

Es gibt Telefonumfragen, zum Beispiel zur Pneumokokken-Impfung bei den über 60-Jährigen. Darin zeigt sich, dass ein großer Teil nicht geimpft ist. Und auf die Frage "Würden Sie sich denn impfen lassen?" sagte die weit überwiegende Mehrheit: "Ja, natürlich, wenn mich mein Hausarzt darauf anspräche."

Die Kampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung "Deutschland sucht den Impfausweis" benennt mit diesem Titel bereits ein weiteres Problem: Viele Leute wissen, wo sich der Impfausweis ihrer Katze befindet, aber kennen ihren eigenen Impfausweis nicht. Daher mein Appell an die Hausärzte: Erinnern Sie bitte ihre Patienten regelmäßig daran, ihren Impfausweis mitzubringen!

Gibt es so etwas wie eine "Psychologie des Impfens"?

Leidel: Ich denke schon. Bekannt sind die wesentlich besseren Impfquoten in den neuen Bundesländern. Die Impfpflicht in der früheren DDR war jedoch nicht das Entscheidende, sondern vielmehr die Tatsache, dass Impfen einfach normal war, so selbstverständlich wie Zähneputzen.

Es wurde von den Ärzten immer wieder darauf hingewiesen, regelmäßig thematisiert. Umgekehrt hatten Impfkritiker kein Podium für ihre Ansichten.

Wie bewerten Sie die Impfmüdigkeit im Zusammenhang mit der Masernepidemie in Berlin?

Leidel: Da erleben wir, dass gerade in gesundheitlichen Fragen informierte, gut ausgebildete, sozial gut gestellte Bürgerinnen und Bürger eine skeptische Haltung gegenüber dem Impfen einnehmen. Das hat etwas mit einer zunehmenden Skepsis gegenüber der wissenschaftlichen Medizin überhaupt zu tun.

Es gibt eine zu esoterischen Ansichten neigende, gebildete Bevölkerungsgruppe, die gerne die Entscheidung über das Für und Wider der Impfung selber treffen und nicht auf Empfehlungen einer Impfkommission hören möchte. Diese Menschen sind leider auch offen für Mythen über das Impfen.

Heißt das, es geht auch um individuelle Freiheit? In den USA, wo die individuelle Freiheit ja als ein sehr hohes Gut betrachtet wird, scheint es doch aber mit Impfpflichten keine großen Probleme zu geben.

Leidel: Die Impfpflicht in den USA, vor allen Dingen in den Schulen, wird bei uns überschätzt. Zum einen ist das von Bundesstaat zu Bundesstaat sehr unterschiedlich, zum anderen gibt es viele Ausnahmeregeln wie etwa religiöse Gründe. Das ist also keine harte Impfpflicht. In der Tat betrachten in Deutschland manche Menschen alles, was von politischer oder amtlicher Seite an sie herangetragen wird, mit großer Skepsis.

Die paternalistische Sorge für die Gesundheit der Bevölkerung wurde in der totalitären früheren DDR durchaus auch positiv empfunden, in der Bundesrepublik haben wir schon Schwierigkeiten mit der Akzeptanz einer Volkszählung. Das ist eine Grundhaltung, die auch das Impfen erschwert.

Kann man es gerade den Impfwilligen, aber Nachlässigen vielleicht leichter machen als bisher, indem man dorthin geht, wo sie arbeiten und lernen?

Leidel: Ganz ohne Zweifel. Das Impfen in Betrieben wird ja erleichtert durch Änderungen im Sozialgesetzbuch, wonach auch Betriebsärzte zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen impfen können. Allerdings haben wir zu wenige Impfangebote in bestimmten Settings.

Bei den Erwachsenen müssten solche Angebote vor allem in den Betrieben gemacht werden, bei Kindern und Jugendlichen in den Schulen. Für schulbasierte Impfprogramme, wie sie in Großbritannien oder Schweden selbstverständlich sind, haben wir jedoch weder die Strukturen, noch die Traditionen und diesem Thema wird ebenfalls mit großer Skepsis begegnet.

Das hängt auch damit zusammen, dass manche Gesundheitspolitiker immer wieder deutlich machen, dass es letztlich die freie Entscheidung des Einzelnen sein müsse. Schon das Auftauchen des öffentlichen Gesundheitsdienstes in der Schule wird als etwas Negatives angesehen und als Ausüben von Druck interpretiert.

Damit habe ich ein Problem, obwohl ich ein großer Anhänger freier Willensentscheidungen bin. Aber es ist doch ein Unterschied, ob ich als Erwachsener sage: "Diese Impfung möchte ich mir nicht geben lassen, lieber nehme ich die Krankheit in Kauf", oder ob ich meinen Kindern den möglichen Impfschutz vorenthalte.

Impfen wird primär als Individualschutz wahrgenommen, nicht als Schutz der Gemeinschaft?

Leidel: Da ist viel dran und mit diesem Thema beschäftige ich mich sehr intensiv. Die Ständige Impfkommission (STIKO) verdankt ihre Entstehung im Jahre 1972 nicht zuletzt der ein Jahr zuvor erfolgten Neuordnung der Entschädigungsregelung bei Gesundheitsschäden infolge einer Schutzimpfung.

Dass es überhaupt so etwas gibt, liegt daran, dass Schutzimpfungen eben nicht nur im individuellen Interesse liegen, sondern, dass es auch ein öffentliches Interesse gibt. Es wird eine Schutzwirkung auf Bevölkerungsniveau entfaltet, die Herdenimmunität.

Es gibt einen Rechtsgedanken, der schon aus dem preußischen Landrecht von 1794 stammt: Wer einer behördlichen Anordnung Folge leistet, die im Interesse des Allgemeinwohls ergangen ist, und dadurch einen Schaden erleidet, hat einen Anspruch auf Entschädigung.

Das ist später übernommen worden in das Reichsimpfgesetz, als es um die Impfung gegen Pocken ging, das ist übernommen worden ins Bundesseuchen- und schließlich ins Infektionsschutzgesetz der Bundesrepublik. Und zwar obwohl die öffentlichen Impfempfehlungen der Bundesländer keine Pflicht sind.

Aber sie sind eben doch mehr, als eine unverbindliche Empfehlung: Sie sind eine dringende Aufforderung an die Bevölkerung, und zwar im eigenen Interesse wie auch dem der Allgemeinheit. Allein deshalb haben wir die Konsequenz einer staatlichen Versorgungsleistung, wenn es hierdurch zu einem Gesundheitsschaden kommen sollte.

Die STIKO ist hauptsächlich dazu ins Leben gerufen worden, die Länder zu beraten, welche Impfungen sie "öffentlich empfehlen" sollten.

Selbst wenn Bürger den Nutzen für die Gemeinschaft erkennen, fragt sich, inwiefern dies eine Rolle spielt bei der individuellen Entscheidung für oder gegen eine Impfung.

Leidel: Das ist schwer einzuschätzen. Impfkritisch eingestellte Erwachsene, mit denen ich darüber spreche, reagieren oftmals unwillig, wenn ich dieses Argument verwende und fühlen sich dadurch unter Druck gesetzt und in eine Ecke gestellt, in der sie sich nicht sehen wollen.

Sie sagen: "Zunächst einmal geht es um meine eigene Gesundheit und die meines Kindes! Und die will ich nicht auf dem Altar der Volksgesundheit opfern!" Sehr solidarisch ist unser Volk, glaube ich, leider nicht.

In repräsentativen Umfragen im Zusammenhang mit dem Masernausbruch in Berlin hat sich eine Mehrheit für hohe Durchimpfungsraten und sogar für eine Impfpflicht ausgesprochen. Sie, Dr. Leidel, haben sich ja klar gegen eine Impfpflicht positioniert, weil sie nicht durchsetzbar sei. Was müsste sich denn nun ändern, abgesehen von den stetig wiederholten Appellen?

Leidel: Eine Pflicht kann immer nur der letzte Schritt sein, um etwas zu erreichen. Folgende Hausaufgaben müssen wir zuvor erledigen: Wir müssen es der Bevölkerung leicht machen, Impfungen in Anspruch zu nehmen, dadurch, dass in Schulen und Betrieben solche Angebote vorgehalten werden.

Dadurch, dass man sich bemüht, innerhalb der Ärzteschaft, der Fachöffentlichkeit, aber auch innerhalb der Politik nach Möglichkeit mit einer Stimme zu sprechen. Wir hören immer wieder unterschiedliche Äußerungen, auch von politischer Seite, die die Bevölkerung verunsichern.

Des Weiteren müssen Hürden für das Impfen bei den niedergelassenen Ärzten beseitigt werden. Ein Gynäkologe, der den mitgekommenen Ehemann seiner Patientin auch gegen Masern impft, darf keinen Regress angedroht bekommen, ein Kinderarzt, der die Eltern des Kindes impft, ebenso.

Die Ärztekammern haben überwiegend die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass das Impfen unabhängig von der Gebietsbezeichnung eine Aufgabe ist, die alle Ärzte wahrnehmen können. Das Arztrecht als Marktordnungsinstrument steht dem entgegen. Das ist eine völlig unnötige Hürde!

Die STIKO empfiehlt schon seit sehr langer Zeit, dass jeder Arztbesuch genutzt werden sollte, um Impflücken zu schließen. Weitere Dinge sind bürokratische Hürden im Umgang mit Abrechnungsvorgängen.

Ich würde mir wünschen, dass vor allem neben den Hausärzten und Pädiatern auch Ärzte anderer Fachrichtungen an das Impfen ihrer Patienten denken.

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