Weltpoliotag

Woran es bei der Polio-Ausrottung hakt

Polio eradizieren: So lautet das WHO-Ziel zum Weltpoliotag am Sonntag. Doch obwohl die Neuinfektionen seit dem ersten Weltpoliotag vor 30 Jahren massiv zurückgegangen sind, gibt es weiter Handlungsbedarf – selbst in Deutschland.

Von Pete Smith Veröffentlicht:
Polio-Schluckimpfung: In Afrika und dem Östlichen Mittelmeerraum grassiert die Krankheit noch immer.

Polio-Schluckimpfung: In Afrika und dem Östlichen Mittelmeerraum grassiert die Krankheit noch immer.

© AP Photo/ Sunday Alamba / dpa

Das Ziel ist seit Jahren in Sicht, rückt aber nur langsam näher: In diesem Jahr wollte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eigentlich die Eradikation der Poliomyelitis verkünden. Doch mit neuen Erkrankungen durch Poliowildviren (WPV) und 61 durch zirkulierende, vom Impfstoff abgeleitete Polioviren (cVDPV) ist ein Fortschritt zumindest im Vergleich zu 2017 kaum spürbar.

„Insgesamt aber erleben wir einen massiven Rückgang der Fallzahlen“, sagt Dr. Kathrin Keeren vom Robert Koch-Institut (RKI), die die Geschäftsstelle der Nationalen Kommission für die Polioeradikation in Deutschland leitet. „2013 hatten wir noch 400 Fälle von Poliowildviren, aktuell dagegen nur 19. Mit Pakistan, Afghanistan und Nigeria ist Polio zudem nur noch in drei Ländern endemisch, wobei Nigeria auf einem guten Weg zur vollständigen Ausrottung ist.“

Enorme Fortschritte bei Fallzahl-Verringerung

Die WHO hat 1988 die Globale Polio-Eradikations-Initiative (GPEI) gestartet mit dem Ziel, Poliomyelitis bis zum Jahr 2000 zu eradizieren. 2013 stellte die GPEI einen Sechs-Jahres-Plan vor, der bis 2018 weltweit die Zirkulation sowohl von WPV als auch von cVDPV beenden sollte.

Beide Initiativen brachten enorme Fortschritte. So ist die Zahl der Polio-Erkrankungen seit 1988 von jährlich 350.000 in 125 Ländern weltweit auf 80 in sieben Ländern gesunken.

Heute gelten vier von sechs WHO-Regionen als poliofrei: Amerika, West-Pazifik, Europa (seit 2002) und Südostasien (seit 2014). Sorgen bereiten noch die Regionen Afrika und Östlicher Mittelmeerraum. Aktuell meldet die GPEI 15 WPV-Erkrankungen in Afghanistan und vier in Pakistan, cVDPV-Infektionen betreffen Nigeria (16), die Demokratische Republik Kongo (15), Papua-Neuguinea (15), Somalia (zwölf) und Niger (drei).

„Viele Probleme sind der jeweiligen politischen Situation geschuldet“, erklärt Kathrin Keeren. „In Ländern wie Afghanistan oder Nigeria greifen Terrormilizen sogar Impfteams an.“ Immer wieder machen fundamentalistische Glaubensgemeinschaften von sich reden, die Impfungen aus religiösen Motiven verhindern:

  • 1979 gab es einen Polio-Ausbruch in den US-Bundesstaaten Pennsylvania, Missouri, Wisconsin und Iowa, der ausschließlich Angehörige der Amischen betraf, einer protestantischen Glaubensgemeinschaft. 2005 registrierte die WHO einen weiteren Ausbruch unter den Amischen in Minnesota.
  • 1992 kam es in den Niederlanden zu einer Polio-Epidemie, von der Mitglieder der fundamentalistisch-calvinistischen Gemeinden betroffen waren.
  • Nachdem der Arzt Ibrahim Datti Ahmed, Präsident des Obersten Scharia-Rats Nigerias, 2003 eine Fatwa (muslimische Rechtsauskunft) aussprach, wonach Polio-Impfungen eine Verschwörung der USA und UN darstellten mit dem Ziel, Muslime zu sterilisieren, breitete sich die Kinderlähmung in dem zuvor als poliofrei geltenden Land wieder aus und erfasste auch Nachbarländer Nigerias.

„Nach diesen Erfahrungen hat die WHO beschlossen, die religiösen Führer mit ins Boot zu holen“, sagt Dr. Sabine Diedrich, Leiterin des Nationalen Referenzzentrums für Poliomyelitis und Enteroviren. „Mit Erfolg, wie die vergangenen Jahre gezeigt haben. Nigeria war zwischenzeitlich sogar poliofrei.“

In Deutschland infizierte sich zuletzt 1990 ein Mensch mit dem Poliovirus, die letzten eingeschleppten Infektionen registrierte das RKI 1992. Kein Grund, um sich auszuruhen, mahnt RKI-Expertin Keeren: „Die WHO schätzt das Risiko einer Wiedereinschleppung für Deutschland derzeit als intermediär ein, weil die Durchimpfungsrate bundesweit bei 93,9 Prozent liegt, also 1,1 Prozentpunkte unter dem von der WHO ausgegebenen Ziel von mindestens 95 Prozent.“

Baden-Württemberg als Sorgenkind

Sorgen, ergänzt Sabine Diedrich, bereite derzeit vor allem Baden-Württemberg, wo im Schnitt nur neun von zehn Kindern über einen ausreichenden Impfschutz verfügten. „Die Geflüchteten sind im Übrigen nicht das Problem. In einer bundesweiten Untersuchung haben wir in den Stuhlproben von Migranten kein einziges Poliowildvirus nachgewiesen. Asylbewerber aus Polio-Risiko-Ländern sind nicht schlechter geimpft als die Bevölkerung hierzulande.“

Nachdem Poliowildviren vom Typ 2 seit 2015 als ausgerottet gelten, wurde der trivalente, oral zu verabreichende Polioimpfstoff (tOPV) seit April 2016 durch den bivalenten Polioimpfstoff (bOPV) ersetzt, der nur noch die Serotypen 1 und 3 enthält.

Um den Schutz gegen alle drei Serotypen aufrechtzuerhalten, sollte mindestens eine Dosis des inaktivierten Polioimpfstoffs (IPV) verabreicht werden. Nach der Umstellung kam es anfangs zu IPV-Lieferengpässen, weshalb auch in Nachbarländern Europas (Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan, Kirgisien, Republik Moldau) zeitweise nicht gegen Poliovirus Typ 2 geimpft werden konnte.

Solche Impflücken, warnen die Expertinnen vom RKI, könnten schnell zu neuen Ausbrüchen führen und vergrößerten auch die Gefahr einer Wiedereinschleppung.

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