Plötzlich müde

Influenzaviren könnten Schlafkrankheit auslösen

Offenbar triggern bestimmte Influenzapeptide eine Narkolepsie. Werden sie aus dem Grippeimpfstoff entfernt, schützt dieser nicht nur vor Grippe, sondern möglicherweise auch vor der neurologischen Erkrankung.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Influenzavirus in vergrößerter Ansicht.

Influenzavirus in vergrößerter Ansicht.

© Sebastian Schreiter / Springer Verlag

NEU-ISENBURG. Auf die verheerende Grippepandemie von 1918 und 1919 folgte unmittelbar eine andere Epidemie, die seither in dieser Form nie wieder aufgetreten ist: Menschen schliefen plötzlich etwa beim Essen ein, zeigten seltsame Lähmungen oder ein komisches Verhalten.

Viele starben oder blieben in einer Art Parkinsonstarre hängen. Schon früh wurde ein Zusammenhang zwischen der Grippe-Epidemie und dieser als "Encephalitis lethargica" bezeichneten Hirnerkrankung gesehen, konnte aber nie klar bewiesen werden.

Nun deuten einige neuere Forschungen in der Tat darauf, dass Grippeviren und einige darauf basierende Impfstoffe in der Lage sind, zerebrale Autoimmunerkrankungen auszulösen.

Treffen diese Erkenntnisse zu, haben sie eine große Bedeutung für die Impfstoffproduktion: Werden jene viralen Peptide gezielt weggelassen, die in der Lage sind, kreuzreaktive Antikörper zu erzeugen, dann könnten solche Impfstoffe nicht nur vor einer Virusgrippe schützen, sondern auch vor Influenza-induzierten neurologischen Erkrankungen.

Auf die Idee, virale Peptide als Auslöser für ZNS-Krankheiten zu betrachten, kamen Forscher um Dr. Syed Ahmed von Novartis Vaccines in Siena, als Hinweise über eine erhöhte Narkolepsie-Inzidenz nach der Grippepandemie von 2009 auftauchten.

Zum einen wurde in Europa über 1300 Narkolepsie-Fälle im Zusammenhang mit der Influenza-Impfung berichtet, zum anderen gab es zur gleichen Zeit eine Häufung von Narkolepsie-Fällen in China, wo die Schweinegrippe grassierte, aber kaum geimpft wurde.

Sowohl die Impfung als auch die Virusinfektion könnten folglich das Risiko für eine Narkolepsie erhöhen.

Narkolepsie nicht bei allen Impfstoffen

Offenbar gibt es zwischen den Impfstoffen jedoch große Unterschiede, was das Narkolepsie-Risiko betrifft.

Ahmed und Mitarbeiter berichten über eine niederländische Analyse, nach der es keine einzige impfassoziierte Narkolepsie unter mehr als 650.000 Impflingen mit der Schweinegrippe-Vakzine Focetria (Novartis) gab, aber 17 unter rund 590.000, die Pandemrix (GSK) erhielten.

Insgesamt scheine sich die erhöhte Narkolepsie-Inzidenz vor allem auf Länder zu beziehen, in denen der GSK-Impfstoff zum Zuge kam (wir berichteten).

Die Forscher schauten sich nun zum einen die Sequenzen der Proteine des H1N1-Virus von 2009 genauer an, zum anderen die Sequenzen der Hypocretin-Rezeptoren und ihrer Liganden (Science Translational Medicine 2015, 294ra105).

Sie wollten herausfinden, ob es Gemeinsamkeiten an potenziell immunogenen Oberflächenbereichen gibt. Bei Narkolepsie gehen Hypocretin-produzierende Zellen im Hypothalamus zugrunde - es mangelt den Patienten daher an dem schlafregulierenden Neuropeptid.

In Tierversuchen konnte die Krankheit durch Mutationen im Hypocretin-Rezeptor ausgelöst werden, bei Menschen scheinen Varianten in HLA-Genen die Krankheit zu begünstigen. Das deutet auf eine Beteiligung des Immunsystems.

Tatsächlich fand das Team um Ahmed im Nukleoprotein A des Influenzavirus eine elf Aminosäuren lange Sequenz, die sehr ähnlich zu einem Bereich des humanen Hypocretin-Rezeptors 2 ist. Beide Regionen befinden sich an der Oberfläche der Proteine und sind somit potenziell immunogen.

Die Hypothese: Influenzavirus und -impfstoff können Antikörper gegen den Hypocretin-Rezeptor 2 induzieren. Nun analysierten die Forscher Seren von 20 Finnen, die nach der Pandemrix-Impfung eine Narkolepsie entwickelt hatten.

Die Blutproben waren etwa 500 Tage nach der Impfung entnommen worden, bei 17 fand sich tatsächlich IgG gegen den Rezeptor.

Dies war auch bei 5 von 20 Seren von Finnen nach einer durchgemachten Influenzainfektion der Fall, aber bei keiner Probe einer kleinen Serie von Patienten mit Focetria-Impfung.

Auslöser virales Nukleoprotein?

Wie sich in einer Reihe von Experimenten herausstellte, banden die Antikörper gegen den HypocretinRezeptor 2 auch an die kritische Sequenz des Influenza-Nukleoproteins.

Dies legt den Verdacht nahe, dass Antikörper gegen das Nukleoprotein die Narkolepsie ausgelöst haben.

Verstärkt wird der Verdacht noch dadurch, dass die Mimikry-Sequenz im Nukleoprotein besonders gut an MHC-Moleküle von Patienten mit dem Narkolepsie-Risikoallel bindet - dazu zählt in der finnischen Bevölkerung etwa jeder Sechste.

Impfung und Influenzavirus könnten also bei genetisch besonders gefährdeten Personen nach diesem Modell die neurologische Krankheit triggern.

Stimmt diese Vermutung, müsste es zwischen den Impfstoffen Unterschiede mit Blick auf das Nukleoprotein geben. In der Tat fanden die Wissenschaftler in Focetria 73 Prozent weniger Nukleoprotein A als in Pandemrix.

Entsprechend spürten sie in den Proben von Focetria-Geimpften nicht nur weniger Antikörper gegen virales Nukleoprotein als bei Proben nach Pandemrix-Impfung auf, sondern auch weniger als bei nicht Geimpften nach einer durchgemachten Influenza-Infektion.

Wenngleich solche Untersuchungen keine eindeutigen Beweise liefern, so legen sie doch ein sehr plausibles Modell für eine viral getriggerte Narkolepsie nahe.

Interessanterweise ist die Mimikry-Sequenz im Nukleoprotein stark konserviert, sie lässt sich auch beim 1918er Influenza-Stamm nachweisen. Möglicherweise haben damals hohe Antikörpertiter gegen Influenza-Nukleoprotein die Encephalitis lethargica ausgelöst.

Ein Baustein fehlt jedoch noch in dem Modell. Wie kommen die Antikörper ins Gehirn? Die Forscher vermuten, dass dafür noch ein weiterer Faktor nötig ist. Vielleicht macht eine Streptokokken-Infektion die Blut-Hirn-Schranke durchlässiger. Streptokokken wurden auch schon als ein Auslöser der Encephalitis lethargica diskutiert.

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