Durchbruch des Jahres 2000: Zehn Jahre Humangenomprojekt

Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms war bei der Bekanntgabe im Juni 2000 als "Durchbruch des Jahres" gefeiert worden. Heute, zehn Jahre später, stehen wir an der Schwelle epochaler Veränderungen in der Medizin, sagt der Genomforscher Professor Hans Lehrach vom Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik in Berlin. Von einer Routine-Anwendung der Erkenntnisse könne aber noch nicht die Rede sein.

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Umfangreiche Informationen über die DNA-Sequenz im Genom von Tumoren können möglicherweise künftig dabei helfen, Millionen von Menschen das Leben zu retten.

Umfangreiche Informationen über die DNA-Sequenz im Genom von Tumoren können möglicherweise künftig dabei helfen, Millionen von Menschen das Leben zu retten.

© Gernot Krautberger / fotolia.com

Ärzte Zeitung: Herr Professor Lehrach, der Mensch besitzt kaum mehr Gene als eine Fliege. Warum sind wir dennoch so unterschiedliche Wesen?

Professor Hans Lehrach: Die Struktur der Gene beim Menschen ist viel komplexer. Bei uns Menschen findet viel mehr "alternatives Splicing" statt als bei Fliegen; das heißt, es sind exponentiell mehr Kombinationen beim Ableseprozess möglich. Daraus resultieren viel mehr verschiedene Proteine oder regulatorische RNA.

Ärzte Zeitung: Vor zehn Jahren ist das Humangenomprojekt offiziell beendet worden. Was ist aus den damit verbundenen Hoffnungen geworden?

Lehrach: Das Genom hat unser Bild von biologischen Prozessen als auch unsere technischen Möglichkeiten, um diese Prozesse zu verstehen, dramatisch revolutioniert. Es war die Basis für eine völlige Neuentwicklung, nämlich Genomprojekte am einzelnen Menschen vorzunehmen. Wir werden in wenigen Jahren das komplette Genom eines krebskranken Menschen und das Genom seines Tumors routinemäßig durchsequenzieren können, und zwar womöglich innerhalb von weit weniger als einer Stunde, also zum Beispiel noch während der Patient auf dem Operationstisch liegt.

So werden wir die optimale Behandlung für den spezifischen Patienten finden. Und das wird die medizinische Praxis wirklich drastisch ändern. Im Vergleich dazu befinden wir uns mit heutigen Behandlungsmethoden noch in der Steinzeit. Wir werden erstmals wirklich in der Lage sein, den Patienten individuell zu behandeln und nicht mehr als einen von tausenden Krebspatienten des gleichen Typs.

Ärzte Zeitung: Heißt das, die Methode kommt bereits in der Klinik an?

Lehrach: Von Routine kann noch keine Rede sein. Aber wir wollen derzeit zehn Patienten in der Charité auf die beschriebene Weise analysieren. Wir werden die Bilder von Tumorgenomen mit dem individuellen Humangenom vergleichen und herausfinden, worin die somatischen Änderungen bestehen. Diese Erkenntnisse ermöglichen es, im Computer ein sehr genaues Modell des Patienten zu generieren und damit die medikamentöse Behandlung des Patienten bei der Auswahl der Mittel, bei Kombinationen und bei der Pharmakokinetik im einzelnen Patienten zu optimieren.

Ärzte Zeitung: Wird diese Methodik den ärztlichen Alltag auch abseits der Onkologie verändern?

Prof. Hans Lehrach

Aktuelle Position: Seit 1994 Direktor am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin

Karriere: Bis 2001 war der 1946 in Österreich geborene Chemiker Sprecher des deutschen Humangenomprojekts. Lehrach ist unter anderem Mitglied des Nationalen Genomforschungsnetzwerks (NGFN)

Lehrach: Am schnellsten wird es in der Onkologie gehen, weil auf diesem Feld in den vergangenen Dekaden sehr viel Forschung betrieben worden ist. Deshalb wissen wir sehr viel mehr über die molekularen Vorgänge als zum Beispiel bei Schizophrenie oder Diabetes mellitus. Dennoch ist es völlig klar, dass es die gleiche Entwicklung auch bei anderen Krankheitsentitäten geben wird.

Dazu ist es auch notwendig, dass die Pharmaindustrie wegkommt vom Blockbuster-Konzept hin zu der Entwicklung einer Behandlung von genetisch definierten Patientengruppen.

Das muss nicht heißen, dass Märkte wegbrechen, zum Beispiel wenn ein Krebsmittel bei nur 10 oder 15 Prozent von Patienten angewendet wird, dafür aber quer über verschiedene Krebstypen.

Ärzte Zeitung: Die Analyse von Genen zur Diagnostik bei individuellen Menschen löst womöglich auch Ängste aus. Sind diese Ängste berechtigt?

Lehrach: Nein, absolut nicht! Wir können aus dem Unterschied der Tumorsequenz und des Patientengenoms zwar unheimlich viel herauslesen und damit künftig womöglich Millionen von Menschen das Leben retten. Aber wir können kaum etwas herauslesen, was für das menschliche Leben im Allgemeinen irgendeine Relevanz hat. Und das wird für absehbare Zeit auch so bleiben. Im Moment können wir nur bei den seltenen monogenen Erbkrankheiten, zum Beispiel Chorea Huntington, wirklich schlüssige Aussagen machen - aber dafür reicht dann auch ein einfacher Gentest auf der Basis einer Familienanamnese.

Ärzte Zeitung: Was ist durch die Ergebnisse der Genomforschung eher beflügelt worden, die Proteinforschung oder die Epigenetik?

Lehrach: Ach, das sind doch nur einzelne Aspekte eines Ganzen. Um die Funktion des Genoms zu verstehen, müssen wir lernen, wie dieses Genom in den Phänotyp übersetzt wird, welche epigenetischen Prozesse ablaufen, wie das Genom transkribiert wird, wie die RNA prozessiert wird, wie das in Proteine übersetzt wird, wie dann bestimmte regulatorisch wirkende Metabolite das ganze System beeinflussen. Das ist eine logische Einheit.

Ärzte Zeitung: Die damals noch junge Bioinformatik hatte vor zehn Jahren erheblich zur raschen Beendigung des Humangenomprojekts beigetragen. Was bedeutet diese Technologie heute für uns?

Lehrach: Auch das muss man innerhalb eines einheitlichen Ganzen sehen. Wir müssen imstande sein, schneller als früher Daten zu generieren. Das würde uns jedoch nichts nützen, wenn wir hundert Milliarden Basen per Hand auswerten müssten. Wir müssen aus der DNA des Patienten bis zu den Voraussagen, welches Medikament für welchen Patienten optimal wäre, ein einziges Problem lösen. Diese Problemlösung hat viele verschiedene Aspekte. Ohne die Lösung jedes einzelnen Aspekts kommen wird nicht weiter. Eine Technologie, die sequenzieren, aber keine Sequenzen auswerten kann, würde nicht viel helfen.

Das Gespräch führte Thomas Meißner

Bis 2015 fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit 15 Millionen Euro Forschungsverbünde, die Teile des "International Cancer Genome Consortium" (ICGC) sind. In zwei neuen Projekten geht es um Prostata-Ca und Maligne Lymphome. Das ICGC ist das größte und ehrgeizigste biomedizinische Forschungsprojekt seit dem Humangenomprojekt (HUGO).

Es werden darin die Genome von mehr als 25 000 Tumorproben und ebenso vielen Vergleichsproben umfassend analysiert. Seit Anfang 2010 nimmt Deutschland durch ein Projekt zu Hirntumoren bei Kindern am ICGC teil. (ple)

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