Prof. Wiestler im Interview

Behandlung wird stärker auf Krebspatient zugeschnitten

Die Analyse des kompletten Krebsgenoms eines Patienten wird bald zum Standard gehören, ist Professor Otmar Wiestler vom Deutschen Krebsforschungszentrum überzeugt. Denn individualisierte Krebstherapie erfordert sehr viel mehr Informationen über die Krankheit als heute erhoben werden.

Dr. Thomas MeißnerVon Dr. Thomas Meißner Veröffentlicht:

Professor Otmar D. Wiestler

Behandlung wird stärker auf Krebspatient zugeschnitten

© DKFZ

Position: Seit 2004 Vorsitzender und wissenschaftliches Mitglied des Stiftungsvorstands des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg (DKFZ) und Vorsitzender des Beirats und Mitglied im Vorstand der Deutschen Krebshilfe.

Ausbildung: Medizinstudium in Freiburg, 1984 Promotion

Werdegang: 1984 bis 1987 Forschungsaufenthalt in den USA an der University of California, San Diego, 1987 Wechsel an das Institut für Pathologie der Universität Zürich. 1990 Habilitation. 1992 bis 2003 Leiter des Instituts für Neuropathologie der Uni Bonn. Dort war er auch Leiter des Deutschen Hirntumorreferenzzentrums, Sprecher des Sonderforschungsbereichs 400 sowie medizinischer Geschäftsführer der LIFE & BRAIN GmbH. 2005 Auszeichnung mit dem Bundesverdienstkreuz.

Ärzte Zeitung: Herr Professor Wiestler, in den vergangenen Jahren ist viel von individualisierter Krebsmedizin die Rede. Wohin führt uns dieser Weg?

Professor Otmar D. Wiestler: Hoffentlich zu einer sehr viel besser auf den Krebspatienten und seine Erkrankung zugeschnittenen Behandlung als heute. Es wird immer deutlicher, dass es erhebliche Unterschiede gibt im Muster von Erbgut-Veränderungen zwischen einzelnen Patienten mit derselben Tumorentität. Darum zeigt ein und dieselbe Tumorentität sehr unterschiedliche Verläufe. Das vertiefte Wissen über Krebserkrankungen und die neuen, gezielt wirksamen Therapieverfahren werden die individualisierte Therapie erlauben.

Inwiefern ist dies mit einer Ausweitung der Diagnostik verknüpft?

Wiestler: Wir benötigen künftig sehr viel mehr Informationen über die Tumorerkrankung als heute. Es wird nicht mehr lange dauern, bis man standardmäßig die Analyse des gesamten Erbgutes der Krebszellen anbieten wird, und zwar zum Zeitpunkt der Diagnose und unter Umständen auch während des Krankheitsverlaufes. Diese Analyse ist heute schon in wenigen Tagen möglich, und die Technologien werden immer effizienter und kostengünstiger.

Das Krebsgenom-Projekt ist ein Forschungsschwerpunkt am DKFZ. Welches Ziel wird damit verfolgt?

Wiestler: Es hat einen Forschungs- und einen Anwendungsaspekt: Die Kenntnis des individuellen Musters von Genveränderungen in Tumorgeweben erlaubt uns, noch mehr über die Grundlagen der Krebserkrankung zu erfahren. Diese umfangreichen Untersuchungen bereiten den Boden für die personalisierte Onkologie.

Nun möchte man glauben, wenn ein individuelles Krebsgenom erst Mal sequenziert ist, könnte man diese Krankheiten lesen wie ein offenes Buch.

Wiestler: Veränderungen im Krebsgenom spielen eine wesentliche Rolle für Entstehung und Verlauf von Krebserkrankungen. Sie sagen uns aber mitnichten alles über ein Tumorleiden. Hinzu kommen Veränderungen auf Eiweißebene, zum Beispiel was Modifikationen von Proteinen betrifft, die nicht im Erbgut abgebildet sind.

Wir werden uns also auf weitere Ebenen der Diagnostik vorarbeiten müssen. Für den Moment jedoch bietet die Erbgutuntersuchung bereits einen recht umfassenden Einblick in wesentliche tumorrelevante Veränderungen.

Sie haben angekündigt, dass das Heidelberger Institut für personalisierte Onkologie (DKFZ-HIPO) bis zum Jahr 2015 bei jedem der jährlich etwa 10.000 in Heidelberg behandelten Krebskranken eine komplette Erbgutanalyse anbieten wird. Hat dies schon therapeutische Konsequenzen?

Wiestler: Wir haben im vergangenen Jahr etwa 2000 Genome von Tumorpatienten sequenziert und bereits sehr viel gelernt. Es ist erstaunlich zu beobachten, wie oft man im Zuge solcher Untersuchungen, gerade bei Patienten mit schweren Tumorerkrankungen und bei Therapieresistenzen, auf betroffene Gene, Gengruppen oder auf Signalwege stößt, für die es schon heute Behandlungsansätze gibt. Diese Untersuchungen werden die Grundlage für Therapiestratifizierungen sein.

Mit HI-STEM gibt es im DKFZ seit 2008 ein Zentrum zur Krebsstammzellforschung. Welchen Weg ist man dort in den vergangenen fünf Jahren gegangen?

Wiestler: HI-STEM ist ein Zentrum mit einer starken grundlagenwissenschaftlichen und einer anwendungsnahen Komponente. Uns interessiert zum Beispiel, aus welchen Zellen sich Tumorerkrankungen entwickeln. Sind das Zellen mit Vorläufereigenschaften? Welche Rolle spielen im Stammzellstadium verharrende Krebszellen für Phänomene wie Zellmigration, Wachstumskinetik, Metastasierung oder auch Therapieresistenz?

Mit Hilfe dieser Erkenntnisse werden wir zum Beispiel Biomarker identifizieren, die das Metastasierungsrisiko anzeigen und wir werden Zellveränderungen finden, auf die wir gezielter als heute reagieren können.

Als eine wichtige Frage der Tumorpathologie werden die Mechanismen der Zelltodregulation angesehen. Wie wirken sich denn solche Erkenntnisse aus?

Wiestler: Der programmierte Zelltod ist aus zwei Gründen besonders interessant. Tumorzellen verlieren offenbar die Fähigkeit zur Apoptose und bleiben aus diesem Grunde erhalten, wachsen und proliferieren. Dieser Verlust des programmierten Zelltods scheint auch eine wichtige Grundlage von Therapieresistenzen zu sein. Dementsprechend möchten wir auch an diesem Punkt gezielt eingreifen.

Wir haben mit einer Ausgründung des DKFZ, dem von Dietmar Hopp finanzierten Unternehmen Apogenix, eine klinische Studie an 85 Patienten mit Glioblastomen abgeschlossen, in der wir ein neues Medikament erprobt haben, das gezielt in Zelltod-assoziierte Signalwege eingreift.

Es sieht so aus, als würden die Patienten erheblich von dieser Behandlung profitieren. Es sieht auch so aus, als hätten wir einen epigenetischen Biomarker gefunden, der uns eine Voraussage über das Ansprechen auf die Behandlung erlaubt.

Das ist ein Beispiel dafür, wie aus jahrzehntelanger Grundlagenforschung jetzt eine klinische Anwendung resultiert.

Einzelne maßgeschneiderte Therapiewerkzeuge versprechen nicht unbedingt den langfristigen und durchschlagenden Erfolg. Was bedeutet das für die weitere Entwicklung neuer Therapieoptionen?

Wiestler: Wir müssen früh darüber nachdenken, wie man neue und herkömmliche Therapiemaßnahmen miteinander kombinieren könnte. Auch dieser Punkt erfordert Individualisierung, einzelne Patienten werden verschiedene Kombinationen benötigen. Das ist nach meiner Überzeugung der Weg, auch schwierig zu behandelnde Krebsarten über längere Zeit kontrollieren zu können.

Jede Krebstherapie übt einen starken Druck auf die Tumorzellen aus, so dass sich Resistenzmechanismen entwickeln. Daher benötigen wir in unserem Behandlungsarsenal stets Alternativen, um resistente Zellen erneut gezielt angehen zu können. Intelligente Therapiekombinationen werden nicht nur die Therapieeffizienz verbessern, sondern auch Resistenzentwicklungen über längere Zeit vermeiden helfen.

Herr Professor Wiestler, im Herbst feiert das DKFZ ein Jubiläum mit dem Motto: "50 Jahre forschen für ein Leben ohne Krebs" - Halten Sie das für ein erreichbares Ziel?

Wiestler: Langfristig muss es das sein. Die effizienteste Art, mit einer Krankheit umzugehen ist, sie zu verhindern. Wenn man an ein Leben ohne Krebs denkt, geht es daher auch darum, alle Möglichkeiten der Prävention und der Früherkennung zu nutzen.

Was manifeste Krebserkrankungen angeht, ist meine Einschätzung die, dass wir es in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren schaffen, die hochmalignen, fortgeschrittenen, oft therapieresistenten Krebsformen, die uns heute noch so große Schwierigkeiten bereiten, zumindest über längere Zeit unter Kontrolle zu halten, so wie zum Beispiel eine HIV-Infektion. Das Überführen einer schweren Krebserkrankung in eine chronische Krankheit wäre ein Schritt, der mir realistisch erscheint.

Wird man irgendwann auf relativ unspezifische Therapieverfahren verzichten können?

Wiestler: Sie werden sicher noch einige Zeit ein Baustein der Therapie bleiben. Letztlich gibt es auch auf diesem Gebiet neue Entwicklungen, wenn Sie zum Beispiel an die Partikeltherapie denken, bei der Protonen oder Kohlenstoff-Ionen mit sehr hoher Geschwindigkeit genau in schwer zugängliche Tumorgewebe gebracht werden und somit eine millimetergenaue Bestrahlung erfolgt.

Es ist schwer vorstellbar, dass etwa ein Kreiskrankenhaus überhaupt noch die mit der individualisierten Krebsmedizin verbundenen komplexen fachlichen und logistischen Herausforderungen bewältigen können wird. Viel ist von Zentrenbildungen die Rede - wird dies zu langen Wegen für die Patienten führen?

Wiestler: Nicht unbedingt. Zentrenbildung wird künftig sicher eine noch größere Rolle spielen als heute. Besonders den onkologischen Spitzenzentren kommt eine Schrittmacherfunktion zu. Dort müssen neue Diagnostik- und Therapieansätze entwickelt und systematisch erprobt werden.

Sobald sich Neuerungen ergeben haben, müssen diese dann auch in der Breite Anwendung finden. Eine wichtige Aufgabe der Zentren ist es daher, intensiv mit onkologischen Krankenhäusern und Praxen zusammenzuarbeiten. Die Deutsche Krebsgesellschaft und die Deutsche Krebshilfe haben für diese Versorgungsidee ein Stufenmodell entwickelt mit onkologischen Spitzenzentren, leistungsfähigen klinischen Krebszentren bis hin zu niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen. Es braucht also letztlich eine neue Qualität der Arbeitsteilung.

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