Pädiater melden Bedenken an

Sandweste zur Therapie unruhiger Kinder?

In 14 Hamburger Schulen sind sie bereits im Einsatz: Sandwesten, über die unruhige Kinder ein besseres Körpergefühl erhalten und damit ruhiger werden sollen. Doch während sie im Internet zum Teil als Zaubermittel bejubelt werden, meldet der Berufsverband der Pädiater Bedenken an.

Dirk SchnackVon Dirk Schnack Veröffentlicht:
Die 9-jährige Nina trägt in der Hamburger Schule am Hirtenweg eine Gewichtsweste.

Die 9-jährige Nina trägt in der Hamburger Schule am Hirtenweg eine Gewichtsweste.

© A. Heimken/dpa

Für unruhige oder konzentrationsschwache Kinder gibt es an Schulen mittlerweile eine ganze Auswahl an therapeutischen Möglichkeiten. An 14 Hamburger Schulen zählen dazu auch Sandwesten, die die Kinder über der Kleidung anlegen. Der mit dem Gewicht erzeugte Druck soll dazu führen, dass die Kinder ihren Körper besser spüren und als Folge dem Unterricht besser folgen können.

Die umstrittene Maßnahme hat viel öffentliche Aufmerksamkeit erzeugt. In sozialen Medien und in Hamburger Zeitungen wird kontrovers über die Westen diskutiert. Bis zu 20 solcher Westen halten die Schulen vor, einzelne wünschen sich mehr davon, weil die Lehrer positive Effekte wahrnehmen und manche Kinder die Westen laut Medienberichten auch gerne anlegen. Angeblich sollen die Westen einzelnen Kindern bei der Fokussierung im Unterricht helfen. Im Internet werden die Sandwesten zum Teil schon zu "Zaubermitteln" hochgejubelt. Ein Hersteller wirbt mit einer angeblich deutlichen Steigerung der kognitiven Leistungsfähigkeit. Eine Hamburger Lehrerin vergleicht den Effekt der Sandwesten mit einem "behutsamen Handauflegen".

"Kinder werden stigmatisiert"

Der Kinder- und Jugendärzteverband in Hamburg meldet Bedenken an. Die Einschätzung des Landesvorsitzenden Dr. Stefan Renz, der aus den Medien vom Einsatz der Westen erfahren hat, ist eindeutig: "Die Kinder werden stigmatisiert", sagte er der "Ärzte Zeitung". Dass Lehrkräfte und Eltern sich zu einer solchen Maßnahme entschließen, verwundert den Pädiater: "Ein den Unterricht störendes Kind kann viele Gründe haben, unruhig zu sein. Diese müssen sorgfältig abgeklärt sein, dann brauchen die Kinder Unterstützung und eventuell eine Therapie." Seine persönliche Meinung zu den Sandwesten? "Unsäglich."

Damit liegt Renz auf einer Linie mit seinem Bundesverband, der zum Thema feststellte: "Unruhige, unkonzentrierte Kinder brauchen eine gründliche Abklärung, jedoch nicht durch die Lehrerin. Nur ein erfahrener Kinder- und Jugendarzt ist zu einer differenzierten Diagnose in der Lage." Unruhigen Kindern eine Sandweste überzuziehen, löse deren Probleme nicht.

Die Hamburger Schulbehörde will sich dennoch nicht in das Thema einmischen. Auf eine kleine Anfrage von FDP-Abgeordneten zum Thema hieß es: "Über den Einsatz von Mitteln pädagogischer Intervention entscheiden Schulen im Rahmen ihrer Selbstverantwortung. Die zuständige Behörde wird den Einsatz weder verbieten noch befördern." Auch eine Evaluation der Maßnahme ist nicht vorgesehen, "da es sich beim Einsatz der Westen um eine Entscheidung der Sorgeberechtigten handelt".

Schulbehörde kann keine Daten vorlegen

Bei der Frage, ob der Einsatz von Sandwesten ärztlicher oder medizinischer Kontrolle unterliegt und ob eventuell ein gesundheitliches Risiko eintreten könnte, antwortet die Behörde: "Die bisherigen Erfahrungen deuten nicht auf mögliche negative Folgen eines längerfristigen Einsatzes der Sandwesten hin." Ergebnisse zur längerfristigen Wirksamkeit oder zu negativen Effekten lägen nicht vor. Auch zur Frage, ob denn der Einsatz den gewünschten Effekt, nämlich eine Steigerung der Konzentrationsfähigkeit, erzielt, kann keine eindeutige Aussage getroffen werden: "Der zuständigen Behörde sind keine wissenschaftlich umfassend abgesicherten Befunde bekannt."

Lehrer, die die Sandwesten einsetzen, haben laut Schulbehörde "im Vorwege Fortbildungen besucht, bei denen sie sich über die Einsatzmöglichkeiten der Westen informiert haben, oder sind von Fachpersonal in die Nutzung der Westen eingewiesen worden". Diese schulinternen Fortbildungen wurden von Ergotherapeuten, Sonderpädagogen oder Förderkoordinatoren durchgeführt. Kaum etwas ist offenbar über die Dauer der Anwendung bekannt. Die Schulbehörde weiß nur, dass die Westen auch von Sorgeberechtigten im privaten Bereich "im Rahmen von Therapie-Anwendungen" eingesetzt werden – die Tragezeit variiert je nach Einzelfall und Zustimmung des Kindes.

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