Elektroden leiten Hörsignale ins Ohr oder Hirn

"Ich bringe mein Leben elend zu. Seit zwei Jahren meide ich alle Gesellschaft, weil es mir nicht möglich ist, den Leuten zu sagen, ich bin taub." Das schrieb der 31jährige Ludwig van Beethoven im Jahre 1801 voller Verzweiflung an einen Freund. Heute hätten Ärzte Beethoven vielleicht helfen können. Denn das Einsetzen von Cochlea-Implantaten kann vielen taub geborenen oder ertaubten Menschen wieder zum Hören verhelfen.

Von Franziska Beckmann Veröffentlicht:

Die ins Innenohr eingepflanzten Elektroden übermitteln elektrische Signale an den Hörnerv und ersetzen damit zerstörte Sinneszellen. Forscher verzeichnen bei diesem Eingriff immer mehr Erfolge: Kürzlich setzten Mediziner um Professor Roland Laszig vom Uniklinikum Freiburg die Elektroden erstmals einem Säugling ein. "Das fünf Monate alte Mädchen ist die weltweit jüngste Patientin mit beidseitigen Cochlea-Implantaten", berichtet Laszig, der die Abteilung für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde leitet.

Bei 98 Prozent aller tauben Menschen läßt sich der Verlust des Gehörs auf eine Zerstörung der Haarsinneszellen zurückführen, die sich in der Cochlea im Innenohr befinden. Mit ihren feinen Härchen nehmen diese Zellen bei normal hörenden Menschen den Schall auf, der vom äußeren Ohr über das Mittelohr in das Innenohr übertragen wird. Sie leiten ihn in Form von elektrischen Impulsen an den Hörnerv weiter. Sind die Haarzellen zerstört - beispielsweise als Folge einer Hirnhautentzündung oder mehrerer Hörstürze -, so ertaubt der Betroffene.

Eine Elektrode übermittelt dem Hörnerv elektrische Impulse

Der Haarzellschaden kann auch bereits bei der Geburt bestehen, etwa aufgrund von Infektionen der Mutter während der Schwangerschaft. "In all diesen Fällen können Ärzte ein Cochlea-Implantat einsetzen, um den Betroffenen die Wahrnehmung von Höreindrücken zu ermöglichen", sagt Professor Arne Ernst. Der Mediziner leitet am Unfallkrankenhaus Berlin die Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde und nimmt diesen Eingriff bei etwa 25 Patienten im Jahr vor. Bei der Operation bekommt der Betroffene in das zerstörte Innenohr eine Elektrode eingesetzt, die anstelle der Sinneszellen dem Hörnerv elektrische Impulse übermitteln soll.

Nach dem Eingriff wird dem Patienten ein Mikrofon ans Ohr angepaßt, das Schallreize aus der Umwelt aufnimmt und diese an einen Sprachprozessor weitergibt, der sie in elektrische Signale umwandelt. Über eine am Kopf befestigte Spule werden die Impulse durch die intakte Haut hindurch auf die Elektrode im Innenohr übertragen. "Der Weg, den der Schall im gesunden Ohr nimmt, wird also gewissermaßen elektrisch überbrückt", erläutert Ernst.

Im Anschluß an die Operation absolvieren die Betroffenen ein mehrmonatiges Hör- und Sprachtraining. "Das Gehirn muß erst lernen, die über das Implantat wahrgenommenen Geräusche der Umwelt zuzuordnen", sagt der Mediziner. Nach Abschluß des Trainings seien etwa 80 Prozent aller Betroffenen imstande, mit anderen Menschen ohne optische Hilfen wie etwa Lippenablesen Gespräche zu führen. "Voraussetzung dafür ist allerdings, daß es in der Umgebung nicht zu laut ist", sagt Ernst.

Psychisch ist der Übergang von der lautlosen Welt in die Welt der Geräusche manchmal nicht ganz einfach. "Entscheidend ist, daß der Betroffene den Eingriff wirklich will und sich im Klaren darüber ist, daß Cochlea-Implantate kein gesundes Gehör ersetzen können", betont Ernst. Er und sein Team beraten interessierte Patienten daher vor der Operation umfassend.

Besonders viel bewirken kann der Einsatz von Implantaten bei Kindern, die taub geboren werden oder - wie das gerade operierte Baby - als Folge einer Hirnhautentzündung ertauben. "Diese Kinder sollten so früh wie möglich operiert werden, damit sie eine Chance haben, wie andere Kinder sprechen zu lernen", sagt Laszig von der Freiburger Uniklinik. Zudem könne sich in der Hörschnecke bereits wenige Wochen nach einer Hirnhautentzündung Knochengewebe bilden, das den Einsatz eines Implantates unmöglich macht.

"Auch deshalb sollten Ärzte schnell handeln", sagt Laszig, der weltweit zu den Pionieren der Implantat-Entwicklung zählt. Bislang wird der Eingriff bei Kindern meist im Alter zwischen zwei und sechs Jahren vorgenommen. Mit der Operation des Säuglings betraten die Forscher also Neuland. "Doch der Eingriff ist so erfolgreich verlaufen, daß wir zuversichtlich sind, in Zukunft noch mehr Kinder bereits im frühen Kleinkindalter operieren zu können", sagt Laszig. Die beste Zeit für den Eingriff sei vermutlich das zweite Lebensjahr.

Etwa zwei Prozent aller tauben Menschen können nicht von Cochlea-Implantaten profitieren: Bei ihnen ist nicht die Innenohrschnecke geschädigt, sondern der Hörnerv selbst. Fast immer ist die Ursache dafür ein gutartiger Tumor. Diesen Patienten wollen US-Forscher um Bob Shannon helfen: Wie die Zeitschrift "New Scientist" kürzlich berichtete, implantierten Ärzte vom House Ear Institute in Los Angeles zwei tauben Patientinnen Elektroden in das Gehirn - genauer: in den Hörkern -, um dort Nervenzellen zu stimulieren. Der Hörkern gehört zum Stammhirn. Dort werden Informationen weiterverarbeitet, die über den Hörnerv einlaufen. "Die eingesetzten Elektroden sollen den Hörnerv überbrücken", sagt Shannon.

Bislang werden Patienten mit Schäden am Hörnerv Elektroden unmittelbar neben dem Hörkern eingepflanzt, am Rande des Stammhirns gewissermaßen. Doch solche nicht-invasiven Implantate sind Shannon zufolge mit gravierenden Nachteilen behaftet. "Sie reizen die Nervenzellen im Hörkern so ungezielt, daß die Patienten zwar Geräusche wahrnehmen, doch selten imstande sind, Sprache zu verstehen", sagt der Forscher.

Er hofft, mit den neuen, direkt in den Hörkern verpflanzten Elektroden die Nervenzellen gezielter reizen zu können. Bisher hat sich diese Hoffnung allerdings nicht erfüllt: Bei der ersten Patientin funktioniert offenbar nur eine der eingesetzten Elektroden. Zudem sind die Experimente der Forscher umstritten, denn direkte Eingriffe in Stammhirn-Areale sind äußerst risikoreich.

"Bei solchen Operationen kann bereits die Verletzung einer einzigen Nervenzelle zu irreversiblen Schäden führen", räumt auch Shannon selbst ein. Doch er und sein Team hätten die Methode jahrzehntelang getestet und seien überzeugt, den Eingriff mit vertretbarem Risiko für die Patienten vornehmen zu können.

Hirnstamm-Implantate werden mit Skepsis betrachtet

Experten in Deutschland betrachten Shannons Experimenten mit Skepsis. "Hier zu Lande würde vermutlich keine Ethikkommission diesem Eingriff zustimmen", sagt Ernst aus Berlin. Zu unkalkulierbar seien die Folgen einer dauerhaften elektrischen Reizung im Stammhirn. Auch Laszig, der sich ebenso wie Shannon mit der Weiterentwicklung von Hirnstamm-Implantaten befaßt, warnt davor, in die neue Methode allzu große Hoffnungen zu setzen. "Im Innenohr lassen sich die Nervenfasern mit Elektroden recht gezielt stimulieren", sagt der Forscher. "Doch je höher hinauf wir ins Gehirn vordringen, desto schwieriger werden solche fein abgestimmten Eingriffe."

Beethoven lebte noch etliche Jahre, nachdem er taub geworden war. Und er trotzte seiner Krankheit Werke wie die Neunte Symphonie ab, die im Finale in einen Jubelgesang mündet. Die Uraufführung des Stückes erlebte er noch persönlich mit - von der Musik vernahm er allerdings keinen einzigen Ton.

Dieser Text ist erstmals erschienen in der Berliner Zeitung vom 02.02.2004



Infos für Betroffene

Die Einsetzung eines Cochlea-Implantats kostet rund 25 000 Euro. Die Kosten werden von den Kassen übernommen.

Informationen für Betroffene gibt es zum Beispiel im Unfallkrankenhaus Berlin, unter Tel.: 0 30 / 56 81 31 97 (Anmeldung zur Hörimplantate-Sprechstunde), oder im CI-Hörtherapiezentrum Potsdam unter Tel.: 03 31 / 6 01 23 31 (Selbsthilfegruppe Cochleaimplantate).

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