Stimmungswandel - die Faulheit wird wiederentdeckt

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Von Claudia Utermann

Faulsein, kein Streß, Freizeit und Familie - zu Zeiten der boomenden New Economy waren das geradezu Unworte. Heute, angesichts von mehr als fünf Millionen Arbeitslosen und schlechten Wirtschaftsdaten, dürften sie bei Arbeitgebern und Politikern auch nicht gerade populär sein. Doch die Gesellschaft ist offenbar anderer Meinung.

"Die Entdeckung der Faulheit - Von der Kunst bei der Arbeit möglichst wenig zu tun", von der Französin Corinne Maier beherrschte zunächst wochenlang die Bestsellerlisten des Nachbarlandes und rutscht jetzt auch hier beständig in der Lesergunst nach oben.

Trendforscher und Wissenschaftler erkennen seit einigen Jahren einen Stimmungswandel in der Gesellschaft. "Die Erwerbsarbeit steckt in der Krise, und die Gesellschaft reagiert darauf", erklärt der Wirtschaftswissenschaftler von der Fachhochschule Nürtingen, Professor Gerhard Willke.

Für viele Menschen sei die Arbeit nicht mehr die zentrale Sinnerfüllung des Lebens. Der Block der festen, den Lebensunterhalt sichernden Erwerbsarbeit zwischen Schulabschluß und Rentenbeginn löse sich auf. Das führe einerseits zu einer starken Verunsicherung, aber auch zu einer neuen Sinnsuche. Der Stellenwert von Familie und Freizeit nehme zu.

Und da treffen viele neue Bücher offenbar einen Nerv. "Simplify your life" von Werner Tiki Küstenmacher und Lothar Seiwert zum Beispiel beherrscht seit drei Jahren die Bestsellerlisten. Der Frankfurter Campus-Verlag, bei dem das Werk erschienen ist, hat seitdem sogar ein eigenes Buchsegment eingerichtet: Besser Leben.

"Noch vor wenigen Jahren waren in unserem Ratgeber-Ressort die Themen Geld und Finanzen ein Renner", erinnert sich Christiane Cramer vom Verlag. Aber auch andere Häuser bringen ständig neue Titel heraus wie "Don’t hurry, be happy" (Gräfe und Unzer), "Träumst du noch oder lebst du schon" (Ehrenwirth) oder "Slow down your life" (Econ).

"Es ist mit der Ratgeberliteratur so eine Sache: In vielen Fällen geht es nur darum, wie wir uns noch mehr motivieren können, wie wir innerhalb eines Systems noch besser funktionieren. (...) Wer sagt denn, daß ausgerechnet das Büro der Ort sein muß, an dem wir uns, wie es immer heißt: verwirklichen?", beschrieb auch die französische Autorin Corinne Maier in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" ihre Motivation für ihr Buch.

Die flexiblen Arbeitsverhältnisse, zu denen die immer komplexer werdenden Lebenssituationen kommen, in denen Kinder und Familie einen höheren aber auch Zeit raubenden Stellenwert einnehmen, seien "extreme Streßfaktoren", sagt Trendforscher Stefan Baumann, Geschäftsführer der Hamburger Agentur "Sturm und Drang".

Er beobachtet, daß immer mehr Menschen versuchen, eine Ausgewogenheit zwischen Arbeit und Freizeit zu erreichen. "Work-life-balance" lautet das Stichwort der Branche. Noch zu Zeiten der boomenden New Economy in den 90er Jahren sei der Beruf Lebenssinn, die Firma wie Familie gewesen. "Heute aber haben die Arbeitnehmer das Gefühl, nur noch die Börse bedienen zu müssen. Es gehe ums Geld und nicht mehr um die Menschen", erläutert Baumann.

"Die Gesellschaft war lange besessen von der Idee der Arbeit und der Angst um sie", sagt auch der Wirtschaftswissenschaftler Willke. Als Reflex auf "diese existenzielle Erfahrung, daß das alte Modell nicht mehr klappt", sieht er eine Spaltung: Die einen beschäftigten sich "obsessiv" mit Arbeit, Weiterbildung und Qualifikation - möglichst schon ab dem Kindergarten.

Der andere Teil dagegen kehre sich völlig ab. "Arbeit wird wieder als Zwang und Entfremdung empfunden - das gab es in der Geschichte bereits", betont Willke.

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