FESTREDE ZUR MEDICA

"Auf Trümmern blüht Konsens am besten"

Über "richtige", "wahre" und "natürliche" Menschen hat Professor Gunter Dueck aus Heidelberg gestern abend in seiner Festrede bei der Eröffnung der Medica in Düsseldorf philosophiert. Zwischen ihnen ist Zwist unvermeidlich - auch in der Medizin. Der Mathematiker hält seine Reden immer frei. Für die "Ärzte Zeitung" hat er seine Gedanken zusammengefaßt.

Von Gunter Dueck Veröffentlicht:

Philosophisch gesehen residieren im Menschen die Seele und der Geist, der Verstand, der Wille - auch der Instinkt, das Herz und die Intuition. Die neurologischen Forschungen der letzten Jahrzehnte beweisen so langsam, daß es wirklich alles gibt, wovon wir schon seit Jahrtausenden wissen.

Leider schießt die Gründlichkeit der Forschungen so sehr über das fürs Leben gebrauchte Maß hinaus, daß wir inmitten der Komplexität schon wieder nichts zu wissen drohen. Ich habe mich aufgemacht, ein einfaches Vorstellungsmodell für den Menschen zu schaffen, das vielleicht etwas im Herzen anzurühren vermag.

Drei Rechner hat der Mensch: Verstand, Intuition und Instinkt

Der Mensch verfügt über drei Rechner in sich: den analytischen Verstand, die Intuition und den Instinkt. Grob gesagt sitzt der Verstand in der linken Gehirnhälfte, die Intuition in der rechten und der Instinkt im Bauch - das ist völlig klar, obwohl er natürlich eher in der Gegend des Mandelkerns residiert.

Es ist eine für Nichtmathematiker vielleicht befremdliche Übung, aber denken Sie einmal mit: Der Verstand ist wirklich so ähnlich wie ein Computer, die Intuition wie ein mathematisches neuronales Netz, und der Instinkt funktioniert wie ein großes Arsenal von Alarmsensoren, die irgendwo im Körper versteckt sind ("somatische Marker") und aufschrecken, wenn wir beleidigt werden, einen Schlüssel verlieren oder gleich den Kopf.

Unter dieser Vorstellung kann ich zeigen, wie das unterschiedliche Denken zustande kommt. Die "richtigen" Menschen benutzen die linke Gehirnhälfte und argumentieren mit Verstand, mit Rezepten und Vorschriften, Tabellen und Listen. Sie sagen "man tut". Die "wahren" Menschen fühlen das Wissen intuitiv und sind empfänglich für das Schöne, das Heilige und Ewige. Sie sagen "das ewige Prinzip bestimmt es". Die "natürlichen" Menschen sind bauch- oder (wie ich sage) sensorgesteuert und reagieren auf Alarme wie Deadlines, laute Musik oder auf Schmerz und Lust. Sie sagen "ich will".

«Noch schlimmer liegen sie sich alle in den Haaren, wie bei sinkenden Einnahmen der Kassen eine Gesundheitsreform auszusehen hätte.»      
   

Darin sind die Streitigkeiten der Menschen begründet. Die wahren Menschen mit ihren heiligen Prinzipien wie Frieden, Liebe, Wahrheit oder dem Eid des Hippokrates möchten ein Leben in harmonischer Urgemeinschaft. Die richtigen Menschen errichten die Staaten, Betriebe, Systeme und Bürokratien - "was man tun muß". Die Natürlichen vertrauen lieber ihrem Bauch, was sie zu guten Unternehmern oder Piloten macht.

Ich will einmal ungemein trivial werden und es so formulieren: Die intuitiven Menschen sind leise. Die natürlichen Menschen mögen das Leben nur laut oder im Hochenergiemodus. Die normalen richtigen Menschen liegen in der Mitte und diktieren die Norm.

Diese Norm ist für die anderen Menschen fast unerträglich und führt dazu, daß "sie nicht artgerecht gehalten" werden. Deshalb gibt es Kampf, den keiner will, und so kommt es, daß auch die normierenden normalen Menschen nicht in einem artgerechten Klima leben können. Diesen Konflikt gibt es in praktisch jedem Lebensbereich: Elternhaus, Schule, Universität, Armee, Kirche.

Leise Gehirnforscher und laute Chirurgen?

Akzeptieren Sie jetzt einmal bitte das Vorstellungsmodell der Leisen, Normalen und Lauten. Sind Psychoanalytiker leise und Psychiater laut? Der eine horcht nach der Seele, der andere handelt und erzielt Wirkung? Dann wäre der Gehirnforscher leise und der Chirurg laut? Das glauben Sie nicht?

Ich arbeite bei IBM, dort sind die Wissenschaftler leise, die Manager in der Mitte und die Verkäufer laut. Ich habe etwa 1000 Kollegen gewinnen können, psychologische Tests für mich zu absolvieren - ja, und genau so etwas kam heraus. Sie sind großteils so, wie ich schon wußte. Mußte ich das beweisen? Sagen denn nicht Wissenschaftler immer "im Prinzip", die Manager "man tut" und die Verkäufer "ich will"?

Meine These ist: Aus dieser Unterschiedlichen Nutzung unserer drei Rechner im Gehirn resultieren fast alle Zwistigkeiten. Die Medizin wird ebenso gnadenlos vom Richtigen bürokratisiert und auf Behandlungskorridore, Prozeßschritte und Vorschriften programmiert. Die Seele des Patienten muß außen vor bleiben, weil sie nicht in Datenbanken paßt. Das spontane Handeln des Chirurgen wird nicht erlaubt. "Das ist vielleicht machbar oder sogar erfolgreich, wird aber nicht abgerechnet."

Auch in der Medizin gibt es das Laute und das Leise - die ganze Bandbreite von der akuten Körperbedrohung bis zur leise weinenden Seele. Auch hier liefern sich das Laute und das Leise heftige Kämpfe, wie der Mensch zu heilen sei. Der Sieger ist das Systemdenken, der Vorschriftenkatalog. Artgerechte Medizin? "Das zahlt die Kasse nicht."

Noch schlimmer aber liegen sie sich alle in den Haaren, wie denn bei sinkenden Einnahmen der Krankenkassen eine Gesundheitsreform auszusehen hätte.

Weil sie sich nie einig sind, gibt es Effizienzsysteme für alle

"Hippokrates!", rufen die einen. "Das System perfektionieren, es hat nur kleine Mängel, weil wenige schwarze Schafe betrügen!", meinen die "Richtigen". "Dann gehen wir in neue Geschäftsfelder wie Schönheitschirurgie oder ignorieren das System einfach!", trotzen die "Natürlichen". Und weil sie sich niemals, in Frieden und im Kriege nicht, einig sind, werden sie allesamt mit Effizienzsystemen überzogen und zwangsreformiert.

Was kann man tun? Alles und nichts. Man könnte sich in den Denkweisen vertragen. Aber ist das möglich? Sind nicht schon viele Bereiche einen ungesunden Weg gegangen - auf ein qualvolles Ende hin? Landwirtschaft, Bergbau, Banken, Airlines? Sie konnten sich nicht entschließen, angesichts von Geldmangel einen gemeinsamen Weg zu finden. Sie kämpften ums Überleben. Das hat nie geholfen - in der Not uneinig zu sein.

Ich selbst bin "wahrer Mensch" und sehe das Elend schon lange voraus, was gar nicht schön ist, weil es nichts hilft. Da seufze ich und weiß: "Auf Trümmern blüht Konsens am besten."

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