HINTERGRUND

Durch eine neue Computer-Software sollen "bionische Augen" gegen Blindheit lernfähig werden

Philipp Grätzel von GrätzVon Philipp Grätzel von Grätz Veröffentlicht:

"Retina-Prothese", "künstliche Netzhaut" oder "bionisches Auge": Es gibt viele Namen für technische Hilfsmittel, mit denen Menschen, die wegen einer Netzhaut-Erkrankung erblindet sind, wieder sehfähig gemacht werden sollen. Auch einige deutsche Forschergruppen arbeiten an solchen Projekten, neuerdings mit einem lernfähigen System, das sich individuell auf die Wahrnehmung der Patienten einstellt.

Deutschland und die USA sind die beiden führenden Länder bei Retina-Implantaten. Hier wurden in den vergangenen Jahren über 30 erblindete Menschen zumindest zeitweilig mit einer Retina-Prothese ausgestattet. Erst vor wenigen Wochen hatte ein Team um Professor Eberhart Zrenner aus Tübingen - wie berichtet - die Ergebnisse einer Pilotstudie vorgestellt, bei der sieben Patienten für einige Wochen ein 25 000 Euro teurer Lichtsensor unter die Retina implantiert wurde.

Mit seiner Hilfe konnten die Betroffenen zumindest Lichtquellen identifizieren. Andere Arbeitsgruppen setzen nicht auf implantierbare Lichtsensoren, sondern auf Minikameras. Solche Prothesen werden entwickelt, um Menschen mit degenerativen Netzhauterkrankungen, etwa mit Retinitis pigmentosa oder altersabhängiger Makuladegeneration (AMD) zu helfen. AMD haben in Deutschland immerhin über vier Millionen Menschen.

Elektrische Impulse werden an Ganglienzellen übermittelt

"Bislang haben aber sämtliche Ansätze die hohen Erwartungen nicht erfüllt", sagt Professor Rolf Eckmiller vom Institut für Informatik VI der Uni Bonn. Der Grund ist immer der gleiche: Egal, ob die Wirklichkeit von einer Kamera oder einem Fotosensor aufgezeichnet wird, letztlich geht es darum, die defekte Retina zu überbrücken und die visuellen Informationen als elektrische Impulse an die Ganglienzellen am Anfang des Sehnervs zu übermitteln. Das geschieht mit Elektroden, und viel mehr als 20 bis 60 davon konnte bisher niemand auf einem entsprechenden Chip unterbringen. Das Ergebnis könnte im besten Fall ein relativ grobes Raster für die Wiedergabe einer sehr viel detailreicheren Wirklichkeit sein.

"Dazu kommt noch, dass das Sehsystem bei jedem Menschen unterschiedlich funktioniert", so Eckmiller zur "Ärzte Zeitung". "Die Netzhaut ist kein Lichtleiter, sondern ein komplexes Netzwerk aus Sinnes- und Nervenzellen, in dem bereits Informationsverarbeitung stattfindet." Das Problem dabei: Die Signale werden bei jedem Menschen in der Netzhaut individuell verschieden verarbeitet. "Es gibt bisher keine Retina-Prothese, die diesem Umstand Rechnung trägt."

Die Konsequenz ist, dass die bisher geprüften Prothesen Impulse in Richtung Gehirn senden, die oft nur als diffuse Lichtimpulse wahrgenommen werden und für die Betroffenen im Alltag keine große Hilfe sind. Auf der Hannover-Messe haben Eckmiller und seine Mitarbeiter jetzt ein lernfähiges System vorgestellt, das dieses Problem lösen soll. Die Entwicklung ist bereits weit fortgeschritten. Verwendet werden soll es zunächst mit einer Kamera, die etwa an einem Brillengestell befestigt wird. "Prinzipiell würde das aber auch mit implantierbaren Fotosensoren funktionieren", betont Eckmiller.

Lernprozess beruht auf komplizierten Algorithmen

Kern des Systems ist ein Retina-Encoder, eine Art kompliziertes Stellwerk, das die visuellen Informationen der Kamera vielfältig verändern kann, bevor sie dann über die Elektroden an den Sehnerven weitergeleitet werden. Wenn einem erblindeten Patienten nun etwa ein schwarzer Ring vorgelegt wird, dann erzeugt der Retina-Encoder sechs verschiedene Informationsmuster, die ans Gehirn übertragen werden.

Der Patient nimmt das zunächst als diffuse visuelle Information wahr und kann nun durch eine einfache Kopfbewegung signalisieren, bei welchem der Muster er ganz persönlich am ehesten einen Ring wahrnimmt. Das wird dann solange wiederholt, bis der Encoder tatsächlich Bildwahrnehmungen erzeugt, die der Patient deutlich als Ring erkennt. Dem Lernprozess liegen komplizierte Rechenprozesse zugrunde.

Die Bonner Wissenschaftler haben das System bei Gesunden evaluiert, die die vom Retina-Encoder erzeugten Bilder auf einem Bildschirm betrachteten. Eckmiller ist mit den Resultaten zufrieden: "Es funktioniert. Insgesamt trainieren wir mit wenigen verschiedenen Mustern für insgesamt etwa zwei Stunden. Danach können die Probanden zwar keine Bücher lesen, aber sie können zumindest die Gestalt größerer Objekte erkennen und deren Konturen wahrnehmen." Für einen Blinden wäre das aber schon ein riesiger Fortschritt. Die Bonner Wissenschaftler suchen nun Industrie-Unternehmen, die bereits mit Retina-Implantaten arbeiten, um ihre Software in ein potenziell marktfähiges Produkt zu integrieren.



Retina-Prothesen

Um bei Blinden, die schon einmal sehen konnten, die defekte Netzhaut zu überbrücken, gibt es zwei Ansätze:

  • Subretinale Implantate werden operativ unter die Netzhaut eingepflanzt. Meist besitzen sie Fotosensoren, die das einfallende Licht in elektrische Signale umwandeln. Sie werden dann an den Sehnerven weitergegeben. Tübinger Ärzte haben sieben Patienten mit einem solchen System ausgestattet. In den USA gab es mehrere ähnliche sehr kleine Studien.
  • Epiretinale Implantate werden in einem technisch sehr viel einfacheren Eingriff auf die Retina aufgesetzt. Sie sind meist mit einer externen Kamera kombiniert, die die Wirklichkeit über eine Sende-Empfangs-Einheit an das Implantat funkt, das dann die Nervenzellen stimuliert. (gvg)
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