Bewusstsein

Emotionen trotz Wachkoma

Fast jeder zweite Wachkomapatient ist trotz schwerer Hirnschäden noch in der Lage, Emotionen zu empfinden: Die Patienten zeigen auf Schmerzschreie deutliche Reaktionen in der funktionellen Bildgebung.

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Wachkoma-Patientin im Heim.

Wachkoma-Patientin im Heim.

© Thomas Frey / imago

TÜBINGEN. Befinden sich Patienten nach einer schweren Hirnschädigung in einem vegetativen Status, verfügen sie häufig noch über ein emotionales Bewusstsein.

Sie zeigen in der Bildgebung selbst dann noch Reaktionen auf affektive Reize, wenn keine kognitiven Funktionen mehr nachweisbar sind. Dies konnten Forscher der Universität Tübingen bei 44 Patienten demonstrieren (Neurology 2013; 80(4): 345).

Das Team um Dr. Boris Kotschoubey hatte die Patienten per fMRT in zwei Testblöcken untersucht. Bei dem einen Block ging es darum, noch vorhandene kognitive Funktionen nachzuweisen.

Die Patienten wurden gebeten, sich eine motorische Aktivität wie Tennisspielen vorzustellen - dies sollte motorische Hirnareale aktivieren. Zum anderen forderte man sie auf, sich gedanklich in einem bestimmten Raum, etwa ihrem Wohnzimmer zu bewegen. Damit zielte man auf eine Aktivität im Parahippocampus, wie sie bei räumlichen und topografischen Vorstellungen erfolgt.

Das Ergebnis: Fünf Patienten zeigten auf die Aufforderung hin tatsächlich eine Aktivität in motorischen Arealen oder im Gyrus parahippocampalis.

Sie verfügten also noch über eine kognitive Restfunktion und konnten offenbar die Anweisungen des Studienpersonals verstehen und ihnen zumindest teilweise folgen; man würde sie daher eher als Patienten mit Minimalbewusstsein und nicht als vegetativ bezeichnen.

Bei einem Patienten wurde sogar eine motorische und eine räumliche Aktivierung beobachtet. 39 Patienten zeigten bei diesen Tests jedoch keinerlei Reaktion in der funktionellen Bildgebung.

Affektives Bewusstsein fundamentaler als kognitives?

Im zweiten Testblock spielte man den Patienten nun menschliche Stimmen und Äußerungen vor. Zum einen waren dies affektiv neutrale Laute wie Gähnen, Singen oder Schnarchen. Zum anderen hörten sie Schmerzschreie von Menschen.

Im fMRT schauten nun die Forscher, ob dabei Hirnstrukturen aktiviert wurden, die sie der "Schmerz-Matrix" zurechneten, einem Verbund von Hirnarealen, die sowohl an der Schmerzwahrnehmung als auch an der affektiven Bewertung von Schmerzen beteiligt sind und die bei Gesunden auch dann aktiviert werden, wenn sie Schmerzäußerungen bei anderen Menschen wahrnehmen.

Im Blick hatten sie dabei fünf Bereiche: den Gyrus cinguli, die vordere Inselrinde, den primären und sekundären somatosensorischen Kortex sowie den Thalamus. Immerhin 24 Patienten - also mehr als die Hälfte - zeigten spezifisch auf die Schmerzschreie mindestens in einem der fünf Bereiche eine Reaktion.

Vier dieser Patienten reagierten sowohl in einem sensorischen als auch in einem affektiven Bereich der Schmerzmatrix - ihre Reaktion entsprach dabei weitgehend der gesunder Probanden, wenngleich die Signale nicht so stark ausgeprägt waren.

Die Studienautoren vermuten, dass diese Patienten auch in der Lage sind, noch selbst Schmerzen zu empfinden. Auffällig war zudem, dass Patienten mit Hirntraumata häufiger noch eine Reaktion auf die Schmerzschreie zeigten als solche mit anoxischen oder anderweitig verursachten Hirnschädigungen.

Insgesamt scheinen die Daten die Beobachtungen vieler Angehöriger zu bestätigen, dass Wachkomapatienten durchaus noch in der Lage sind, affektive Reize wahrzunehmen, berichten Kotschoubey und Mitarbeiter.

Möglicherweise ist das affektive Bewusstsein weit fundamentaler im Gehirn verankert als das kognitive Bewusstsein mit seinen Domänen Aufmerksamkeit, Spracherkennung und Gedächtnis, vermuten die Tübinger Forscher.

Das affektive Bewusstsein könnte daher viel häufiger auch noch nach schweren Hirnschädigungen persistieren.

Auch wenn unklar sei, wie zuverlässig man mit fMRT-Signalen Bewusstsein dokumentieren kann, so zeige die Arbeit doch, dass Ausmaß und Art des Bewusstseins bei Patienten mit vegetativem Status oder Minimalbewusstsein sehr unterschiedlich sein können, schreiben die beiden US-Neurologen Dr. Gastone Celesia und Dr. Walter Sannita in einem Editorial zur Tübinger Publikation.

Dies solle künftig bei den überarbeiteten Leitlinien US-amerikanischer Fachgesellschaften berücksichtigt werden (Neurology 2012; online 19. Dezember). (mut)

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