Kindesmisshandlung

Zu Hause verprügelt – stecken Männer das besser weg?

Wurden Frauen als Kinder misshandelt, so ist ihre Lebenserwartung drastisch reduziert. Für Männer scheint das nicht zu gelten. Forscher suchen nach Erklärungen.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Kindesmisshandlung kostet Fauen sieben Jahre Lebenszeit. Für Männer hingegen hatten selbst schwere körperliche Misshandlungen in der Kindheit keine erkennbaren Auswirkungen auf die Sterberate.

Kindesmisshandlung kostet Fauen sieben Jahre Lebenszeit. Für Männer hingegen hatten selbst schwere körperliche Misshandlungen in der Kindheit keine erkennbaren Auswirkungen auf die Sterberate.

© Brian Jackson/Fotolia.com

EVANSTON. Misshandlung und Vernachlässigung in der Kindheit hinterlassen bei vielen Opfern Narben in der Seele, die ihnen auch als Erwachsene das Leben schwer machen. Ein erhöhter Alkohol- und Drogenkonsum, ein ungesunder Lebensstil und damit ein erhöhtes Risiko für Unfälle, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Tumoren wurden in Studien bei Missbrauchsopfern häufig beschrieben.

Damit dürfte die Lebenserwartung bei Missbrauchsopfern kürzer sein als bei Personen mit einer glücklichen Kindheit. Ein risikoreiches und kardiovaskulär belastendes Leben ist aber eher eine Männerdomäne.

Von daher überraschen die Resultate einer Langzeitstudie: Verkürzt war hier nur die Lebenserwartung bei Frauen, nicht aber bei Männern, die in der Kindheit unter körperlicher Gewalt zu leiden hatten (JAMA Psychiatry. 2016; 73:920-927). Möglicherweise ist ein ungesunder Lebensstil nicht die entscheidende Erklärung für den frühen Tod nach Gewalterfahrungen in der Kindheit.

Darauf deutet die Untersuchung von Psychologen um Dr. Edith Chen von der Universität in Evanston.

Lebenserwartung etwa um sieben Jahre verkürzt

Die Forscher haben die Sterberate von knapp 6300 Männern und Frauen analysiert, die Mitte der 1990er Jahre an dem Survey "Midlife Development in the United States" teilgenommen und auch einen Fragebogen zu Misshandlungen in der Kindheit ausgefüllt hatten. Im Schnitt waren die Teilnehmer 47 Jahre alt, das Spektrum reichte von 25 bis 74 Jahren.

Eruiert wurden Missbrauchsfälle anhand der revidierten "Conflict Tactics Scale". Sie führt eine Reihe von Verhaltensweisen auf, die bei Konflikten zum Tragen kommen. Diese gruppierten die Psychologen um Chen in drei Kategorien. Als emotionale Misshandlung gilt danach, wenn Erziehungsberechtigte Kinder beleidigen oder kränken, nicht mehr mit ihnen sprechen, wütend den Raum verlassen oder Gewalt androhen.

Unter moderater körperlicher Gewalt wird etwa Schubsen, Stoßen oder Ohrfeigen verstanden. Auch das Werfen von Gegenständen auf die Kinder zählt in diese Kategorie. Als schwere körperliche Misshandlung gilt alles darüber hinausgehende, also Treten, Beißen, Schlagen mit der Faust oder Gegenständen, Würgen, Verbrühen, Verbrennen.

Um als Misshandlung zu zählen, mussten solche Ereignisse gelegentlich bis häufig vorkommen.

Danach waren rund 11 Prozent der Frauen und 13 Prozent der Männer in der Kindheit körperlich schwer misshandelt worden. Leichte physische Gewalt hatten 25 und 28 Prozent angegeben, über emotionale Misshandlungen berichteten jeweils 36 Prozent. Männer waren also etwas häufiger als Frauen körperlich gezüchtigt worden.

Im Laufe von 20 Jahren starben rund 1100 der Teilnehmer. Wie sich zeigte, war die Sterberate bei Frauen mit schwerer körperlicher Misshandlung in der Kindheit um 60 Prozent höher als bei Frauen ohne Gewalterfahrung.

Dies war selbst dann der Fall, wenn die Forscher um Chen den soziökonomischen Status der Eltern, Persönlichkeitsmerkmale und Depressionen neben den üblichen Faktoren für einen vorzeitigen Tod (etwa Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Tumoren, Alkohol, Tabak, geringe Bildung) berücksichtigten.

Bei moderater körperlicher Gewalt war die Rate noch immer um 30 Prozent gesteigert, und emotionaler Missbrauch ging mit einer 25 Prozent höheren Sterblichkeit einher. Für Männer hingegen hatten selbst schwere körperliche Misshandlungen in der Kindheit keine erkennbaren Auswirkungen auf die Sterberate, Ähnliches galt für moderate körperliche und emotionale Gewalt.

Waren Frauen zugleich emotionaler und körperlicher Gewalt ausgesetzt, lag die Sterberate um rund 70 Prozent höher – die Lebenserwartung war dann etwa sieben Jahre verkürzt. Auch hier zeigte sich bei Männern kein Zusammenhang.

Beschleunigtes Altern?

Ein ungesunder Lebenswandel als Folge des Missbrauchs mag die verkürzte Lebenserwartung wohl nur zum Teil erklären – immerhin wurde für einige Lebensstilfaktoren adjustiert. Die Forscher um Chen vermuten, der missbrauchsinduzierte Stress könnte das Immunsystem auf einen proinflammtorischen Pfad festlegen und damit chronische Erkrankungen im Alter begünstigen.

Forscher um Dr. Idan Shalev von der Pennsylvania State University bringen in einem Editorial noch einen anderen Faktor ins Spiel: Aus evolutionsbiologischer Sicht macht es Sinn, unter bedrohlichen Umständen das Altern zu beschleunigen (JAMA Psychiatry 2016; 73:897-898).

Dadurch steigen die Chancen, die Geschlechtsreife noch vor dem Tod durch ein gewaltsames Ereignis zu erreichen und seine Gene an die Nachwelt weiterzureichen. Weshalb dann aber nur Frauen schneller alter, bleibt ein Rätsel.

Vielleicht liegt es an der retrospektiven Befragung in der Studie: Männer geben sicher seltener zu, misshandelt und Opfer häuslicher Gewalt geworden zu sein. Es könnte also in der Studie ein Selektionsbias vorliegen: Nur die Männer, die sehr gut damit klarkamen, gaben die Gewalterfahrung auch zu.

Und diese Männer trugen dann vielleicht tatsächlich kein erhöhtes Sterberisiko. Dagegen waren Männer, die nicht so gut damit zurechtkamen, vielleicht gar nicht erst in der Lage, an dem Survey teilzunehmen – weil sie im Gefängnis, auf der Straße oder bereits auf dem Friedhof steckten.

Auf der anderen Seite sind Frauen mit körperlichen Misshandlungen wohl auch vermehrt sexuell missbraucht worden. Und dieser Missbrauch könnte weit schwerer wiegen als die körperliche Züchtigung.

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