Erste Erfolge

Elektrostimulation macht Gelähmten wieder Beine

Paraplegiker können mit Krücken wieder gehen – dank einer individuell angepassten epiduralen Stimulation. Allerdings ist die Therapie nicht für jeden geeignet: Je schwerer die Läsion, umso geringer sind die Erfolgsaussichten.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Nerven-Reizleitung über den synaptischen Spalt.

Nerven-Reizleitung über den synaptischen Spalt.

© rost9 / stock.adobe.com

Zugegeben, es sieht nicht sehr elegant aus: Ein junger Mann humpelt mit einem Rollator an der Promenade des Genfer Sees in Lausanne entlang. Doch Schritt für Schritt kommt er voran (Nature 2018; 563: 71). Die kurze Videosequenz macht beides deutlich: den unglaublichen Fortschritt und die immer noch bestehenden Unzulänglichkeiten. Normales Gehen dürfte auch weiterhin für Querschnittgelähmte ein Traum bleiben. Und dennoch markiert das an der Polytechnischen Hochschule Lausanne weiterentwickelte epidurale elektrische Stimulationsverfahren (EES) einen Durchbruch.

Mit einer gezielten Reizung propriozeptiver Netzwerke gelingt es, noch vorhandene Bewegungssignale vom Gehirn zu verstärken. Querschnittgelähmte sind dadurch zum Teil wieder in der Lage, mit simplen Hilfsmitteln wie Krücken und Rollatoren voranzukommen. Neu an der Schweizer EES-Variante ist, dass sich der Erfolg recht schnell einstellt und bis zu einem gewissen Grad auch dann fortbesteht, wenn der Stimulator ausgeschaltet ist (Nature 2018; 563: 65 und Nature Neuroscience 2018; online 31. Oktober).

Erste Gehschritte dokumentiert in einem Video auf Youtube

Die Forscher um Professor Gregoire Courtine setzen auf Elektroden, die lumbosakral unterhalb der Rückenmarksläsion implantiert werden. Die Elektroden sind mit einem Stimulator (EES) verbunden, der ähnliche Signale liefern soll wie das Gehirn, wenn es die Beine zum Stehen und Gehen auffordert. Die Idee: Viele Querschnittgelähmte verfügen noch über einige motorische Fasern, welche die Läsion überbrücken. Diese sind jedoch zu schwach, um Muskeln zu aktivieren. Durch Stimulation können die nun erregten Inter- und Motoneurone die schwachen Hirnsignale wieder empfangen und weiterverarbeiten.

US-Forscher hatten bereits Ende September über Erfolge mit der Stimulation berichtet (NEJM 2018; online 27. September und Nature Medicine 2018, online 24. September). Damit konnten zwei von vier Patienten nach intensivem bis zu eineinhalb Jahre dauerndem Training wieder einige Schritte mit einem Gehrahmen bewältigen. Sie schafften eine Strecke von über 350 Metern insgesamt und bis zu 90 Metern ohne Pause. Dies waren Patienten, die noch sensorische Signale empfingen und etwa einen Nadelstich spürten (Grad-B-Läsion nach der ASIA-Skala).

Grad-A-Patienten, die weder eine sensorische noch motorische Reaktion jenseits der Läsion zeigten, gelang es immerhin, auf einem Laufband zu gehen; sie konnten dabei ihr Gewicht aber nicht alleine tragen. Der Trainingsaufwand war also äußerst hoch, das Ergebnis nicht unbedingt alltagstauglich.

Räumlich-zeitliche Aktivierung im Rückenmark

Deutlich besser sieht es mit dem EES-Verfahren der Schweizer Forscher aus. Sie kommen zu dem Schluss, dass eine kontinuierliche Stimulation, wie sie die Amerikaner verwenden, eher hinderlich ist, da sie den propriozeptiven Input blockiert und die Patienten damit über die räumliche Position ihrer Beine im Unklaren lässt. Stattdessen berechnete das Team um Courtine bei gesunden Probanden über EMG-Muster in der Beinmuskulatur die entsprechende räumlich-zeitliche Aktivierung im Rückenmark während des Gehens.

Diese Muster spielen sie nun mit ihren Elektroden gezielt auf die einzelnen Hinterwurzeln entsprechender Rückenmarkssegmente. Damit erreichen sie die noch vorhandenen Motoneurone im Rückenmark. Es werden also nicht alle Wurzeln zugleich, sondern nur bestimmte zu entsprechenden Zeitpunkten aktiviert. So soll im Rückenmark unterhalb der Läsion wieder ein Aktivierungsmuster entstehen, wie dies beim normalen Gehen üblich ist.

Das Verfahren prüften sie bei drei Männern, die seit vier bis sechs Jahren querschnittsgelähmt sind. Die Patienten hatten alle Grad-C- und D-Läsionen und damit noch eine gewisse motorische Restfunktion, sie konnten jedoch nicht gehen oder ihr Gewicht tragen. Mit der modifizierten EES gelang es ihnen sofort wieder, willentlich ein Bein vor das andere zu setzen – praktisch ohne jegliches Training. Auch konnten sie die Bewegung jederzeit stoppen, trotz Stimulation. Sie hatten folglich wieder die Kontrolle über ihre Beine zurückerlangt.

Hohe neuronale Plastizität auch noch nach Jahren

Beim Gehen mussten sie zunächst noch gestützt werden, um ihr Gewicht zu tragen, doch nach fünf Monaten Training bewältigten sie mit Krücken oder einem Rollator selbstständig Strecken von über einem Kilometer. Eine weitere Überraschung: Die motorischen Fähigkeiten blieben teilweise erhalten, wenn die Forscher den Stimulator wieder abschalteten. Dann konnten die Teilnehmer noch selbstständig aufstehen und kurze Strecken mit Krücken gehen, was darauf schließen lässt, dass es zu neuronalen Umbauprozessen im Rückenmark gekommen ist.

Die entscheidende Frage lautet: Wer profitiert am ehesten von dem Verfahren? Klar geworden ist zumindest eines: Die neuronale Plastizität im Rückenmark ist selbst Jahre nach einer teilweisen Durchtrennung noch sehr hoch, Nervenzellen unterhalb der Läsion lassen sich wieder aktivieren, trainieren und für neue Aufgaben rekrutieren. Der Erfolg der Stimulation hängt jedoch sehr stark davon ab, wie viele motorische Fasern die Läsion überbrücken.

Selbst Grad-A-Patienten mit kompletter Paraplegie verfügen oft noch über einige intakte motorische Verbindungen, doch hier scheint die EES wenig zu nützen – solche Patienten dürften nach wie vor mit dem Rollstuhl besser zurechtkommen. „Bei komplett Querschnittgelähmten ist nicht davon auszugehen, dass eine alltagsrelevante Gehfunktion wiederhergestellt werden kann“, kommentierte auch Professor Norbert Weidner von der Klinik für Paraplegiologie in Heidelberg die Studien. Am ehesten klappt die EES bei Patienten mit motorischer Restfunktion, diese haben offenbar noch genug unbeschädigte motorische Fasern, um damit wieder laufen zu lernen.

Möglicherweise lässt sich das Ergebnis verbessern, wenn kurz nach der Rückenmarksverletzung mit der Stimulation begonnen wird. Und vielleicht gelingt es eines Tages, die motorischen Signale vor der Läsion abzulesen und auf die Elektroden zu übertragen. Dies klingt nach den Erfolgen mit der EES längst nicht mehr utopisch. Dann könnten auch komplett Gelähmte wieder gehen lernen.

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