Experiment

Stromstimulation hilft Gedächtnis auf die Sprünge

Wie lässt sich das Gedächtnis verbessern? Zumindest kurzfristig geht das offenbar mit einer speziellen Wechselstromstimulation. US-Forscher haben so das Arbeitsgedächtnis von über 60-Jährigen wieder auf das Niveau von 20-Jährigen gehoben – zumindest für rund eine Stunde.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Das Experiment scheint damit die Hypothese zu stärken, wonach für ein funktionierendes Arbeitsgedächtnis die Koppelung und Synchronisation solcher Frequenzen nötig ist und entsprechende Störungen die kognitive Leistung im Alter beeinträchtigen.

Das Experiment scheint damit die Hypothese zu stärken, wonach für ein funktionierendes Arbeitsgedächtnis die Koppelung und Synchronisation solcher Frequenzen nötig ist und entsprechende Störungen die kognitive Leistung im Alter beeinträchtigen.

© Siarhei / stock.adobe.com

BOSTON. Bei Methoden zur Verbesserung der geistigen Fähigkeiten denken wohl die meisten an irgendwelche Drogen oder Medikamente. Da das Gehirn elektrochemisch arbeitet, kommen natürlich auch elektrische Stimulationsverfahren infrage.

Wenn es sich nicht gerade um invasive Methoden wie die tiefe Hirnstimulation handelt, sind solche Verfahren aber wenig präzise. Mit außen an den Schädel angelegten Strömen und Magnetfeldern werden allenfalls ganze Hirnlappen gereizt, lokal begrenzte und spezifische Änderungen der Hirnfunktion sind damit kaum möglich.

Zwei US-Forscher haben nun offenbar doch einen Weg gefunden, mit einem nichtinvasiven Verfahren relativ gezielt in die Hirnfunktion einzugreifen – indem sie „Funkcodes“ zwischen bestimmten neuronalen Schaltkreisen entschlüsselten und versuchten, mit ähnlichen Frequenzen zu senden (Nature Neuroscience 2019; online 8. April).

Damit gelang es ihnen, bei älteren Menschen das Arbeitsgedächtnis zu verbessern. Mit dem hochauflösenden transkraniellen Wechselstromverfahren (HD-tACS) erreichten ältere Probanden für kurze Zeit wieder die Leistungsfähigkeit von 40 Jahre jüngeren Menschen. Die Tests geben auch Aufschluss über Veränderungen neuronaler Netzwerke im Alter.

Gestörte Frequenzkoppelung

Die beiden Hirnforscher Robert Reinhart und John Nguyen von der Universität in Boston gingen zunächst von einem Modell aus, wonach für die Aufnahme und Kodierung von Informationen im Arbeitsgedächtnis neuronale Schaltkreise mit bestimmten Aktivitätsfrequenzen erforderlich sind.

Zum einen scheint eine Frequenzkoppelung von Thetawellen im Bereich von 4–8 Hz sowie Gamma-Wellen von mehr als 25 Hz nötig zu sein, zum anderen werden bei einem funktionierenden Arbeitsgedächtnis neuronale Netzwerke im präfrontalen Kortex und in temporalen Regionen im oberen Thetawellenbereich phasensynchronisiert.

Die Forscher gingen davon aus, dass bei älteren Menschen durch Ausfälle von Neuronen in den Netzwerken diese Koppelung und Synchronisation nicht mehr richtig funktionieren.

Dem wollten sie nachhelfen, indem sie von außen Wechselströme mit entsprechenden Frequenzen anlegten.

Für ihre Experimente konnten sie 42 gesunde Probanden im Alter von 60–76 Jahren und ebenso viele in ihren 20er-Jahren gewinnen. Beim Mini-Mental-Status-Test gab es kaum Unterschiede: Die älteren Teilnehmer erreichten im Schnitt 28,9, die jüngeren 29,5 Punkte.

Aufgaben vor einem Monitor lösen

Die Probanden bekamen sechs Elektroden für die HD-tACS auf den Kopf geklebt, und zwar an definierte Stellen über dem linken präfrontalen Kortex und dem linken temporalen Kortex. Die Stromstärke für jede Elektrode wurde mithilfe mathematischer Modelle einzeln berechnet.

Mit dieser Anordnung lassen sich kortikale Strukturen räumlich präziser beeinflussen als mit konventionellen Stimulationsverfahren, wie sie etwa zur Schlaganfallrehabilitation geprüft werden, berichten die Wissenschaftler.

Alle Probanden mussten nun eine Reihe von Aufgaben vor einem Monitor lösen. Sie sollten etwa kleine Unterschiede bei zwei sehr ähnlichen Bildern markieren, und zwar unter Scheinstimulation, 25 Minuten dauernder richtiger Stimulation sowie nach der Stimulation.

Während der Scheinstimulation bekamen die Probanden für 30 Sekunden einen an- und abschwellenden Stromimpuls, der das Prickeln auf der Haut zu Beginn der echten Stimulation imitierte.

Die echte Stimulation erfolgte auf Basis der exakten, individuell per EEG ermittelten Theta- und Gammafrequenzen.

Effekte nach wenigen Minuten

Unter der Scheinstimulation zeigte sich das erwartete Ergebnis: Die jungen Probanden konnten die Unterschiede auf den Bildern deutlich schneller erkennen, auch machten sie wesentlich weniger Fehler.

Wie die Forscher herausfanden, zeigten die jungen Probanden auch eine intakte und für das Ergebnis prädiktive Kopplung von Theta- und Gammafrequenzen, nicht jedoch die älteren.

Hier erkannten sie eine gewisse Entkoppelung dieser Frequenzen sowie eine Desynchronisation der Thetawellen zwischen präfrontalem und temporalem Kortex.

Mit der Wechselstromstimulation verbesserte sich die Leistung der älteren Probenden innerhalb weniger Minuten: Ihre Genauigkeit beim Erkennen der Fehler auf den Bildern stieg von 80 auf 90 Prozent und erreichte damit recht genau den Wert der jungen Probanden ohne Stimulation.

Der Effekt war auch noch 50 Minuten nach der Stimulation erkennbar. Kaum eine Änderung gab es jedoch bei der Reaktionsgeschwindigkeit. Diese verbesserte sich geringfügig, aber nicht signifikant.

Unter der Stimulation kam es wieder zu einer besseren Theta-Gamma-Koppelung und zu einer stärkeren Thetasynchronisation zwischen präfrontalem und temporalem Kortex – die Muster ähnelten wieder denen von jungen Menschen.

Verwendeten die Forscher andere oder nicht personalisierte Frequenzen für die Stimulation, waren die Resultate mit denen unter Scheinbehandlung vergleichbar.

Daher vermuten sie, dass nicht ein allgemeiner Stimulationseffekt Ursache der besseren Leistung war, sondern die Reizung mit den spezifischen Frequenzen.

Besserer "Funkkontakt" ermöglicht

Das Experiment scheint damit die Hypothese zu stärken, wonach für ein funktionierendes Arbeitsgedächtnis die Koppelung und Synchronisation solcher Frequenzen nötig ist und entsprechende Störungen die kognitive Leistung im Alter beeinträchtigen.

Durch die Stimulation wird offenbar wieder ein besserer „Funkkontakt“ zwischen den für das Arbeitsgedächtnis notwendigen neuronalen Netzwerken ermöglicht, erklären sich die Forscher die Wirksamkeit ihrer Behandlung.

Noch bleiben viele Fragen offen. Unklar ist etwa, ob auch junge Menschen von dem Verfahren profitieren und ihr Arbeitsgedächtnis damit weiter stärken können. Wie lange der Effekt nach der Stimulation anhält, ist ebenfalls ungewiss – gemessen wurde nur bis zur 50. Minute nach der Stimulation.

Am Schwund von Hirnzellen im Alter wird das Verfahren wohl nichts ändern, es könnte aber die geistige Fitness bei Älteren deutlich verbessern und damit die Folgen der Neurodegeneration für eine gewisse Zeit abmildern.

Die Forscher um Reinhart und Nguyen hoffen, dass die Stimulation über längere Zeit zu neuen Kontakten zwischen den beteiligten Netzwerken führt und somit die Koppelung auch wieder ohne Stimulation gelingt.

Auf dieses Weise ließe sich vielleicht mit regelmäßigen Stimulationssitzungen der kognitive Abbau funktionell deutlich verzögern.

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