Antidepressiva sind besser als ihr Ruf

Wie gut helfen Antidepressiva? Darüber wird zum Teil heftig diskutiert. Jetzt zeigt eine neue Studie: Die Pillen wirken und helfen den Depressiven - allerdings nicht jeder Altersgruppe gleich gut.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Wie gelähmt im Bett: Von fünf Depressiven spricht einer gut auf Arzneien an.

Wie gelähmt im Bett: Von fünf Depressiven spricht einer gut auf Arzneien an.

© mast3r / Shutterstock

Chicago. Eine Metaanalyse des US-Psychologen und Pharmaka-Kritikers Professor Irving Kirsch sorgte 2008 für Furore: Antidepressiva, so sein Ergebnis, sind kaum wirksamer als Placebo, allenfalls bei schweren Depressionen.

Ein Unterschied auf der Hamilton-Depressionsskala (HAM-D) zwischen Arznei- und Placebotherapie von mindestens drei Punkten, wie er von der britischen Behörde NICE als klinisch relevant beurteilt wurde, lasse sich nur bei schwer Depressiven erzielen. Kirsch nennt die Wirksamkeit von Antidepressiva daher einen Mythos.

Viele Psychiater entgegneten dem, dass es nicht auf den Durchschnitt der HAM-D-Werte ankommt, weil ein hoher Anteil von Non-Respondern das Ergebnis nivelliert, sondern auf den Verlauf der Symptome bei einzelnen Patienten.

Für entscheidend halten sie, wie viele Patienten auf die Therapie ansprechen und wie viele in Remission gelangen. Hierzu gibt es inzwischen weitere Studien.

Insgesamt 41 Studien ausgewertet

In einer aktuellen Analyse hat ein Team um den US-Psychiater Dr. Robert Gibbons von der Universität in Chicago Daten auf Ebene einzelner Patienten aus Studien mit Venlafaxin und Fluoxetin analysiert (Arch Gen Psychiatry 2012; 69: 572).

Der SSNRI Venlafaxin zählt zu einer neuen Generation von Antidepressiva, der SSRI Fluoxetin ist auch bei Minderjährigen zugelassen - die Analyse ermöglicht damit auch altersabhängige Aussagen.

Gibbons fand 20 Studien zu Fluoxetin sowie 21 zu Venlafaxin. Er konnte dabei Angaben von knapp 9200 Depressiven über einen Zeitraum von sechs Wochen auswerten.

Dabei kam er zu völlig anderen Schlussfolgerungen als Kirsch: Im Schnitt mussten etwa fünf Patienten mit Antidepressiva behandelt werden, damit einer auf die Therapie ansprach - bessere Werte gibt es auch bei vielen internistischen Arzneitherapien nicht.

Die Ansprechrate - eine 50-prozentige Reduktion der Werte auf der HAM-D-Skala oder einer Depressionsskala für Kinder - hing dabei nicht sonderlich von der Schwere der Depression ab, wohl aber vom Alter: Die Therapieerfolge bei geriatrischen Patienten waren bescheiden.

Bei der Schwere der Depression differenzierte Gibbons jedoch nicht besonders: Er teilte die Patienten in solche mit einem HAMD-Wert über 20 Punkte ein (schwere Depression) oder solche mit niedrigeren Werten (leichte Depression).

Bei der Children's Depression Rating Scale (CDRS) wählte er einen Grenzwert von 60 Punkten.

Unterschied zu Placebo von knapp 28 Prozent

Die Ergebnisse im Einzelnen: Insgesamt ging der HAM-D-Wert mit Arzneitherapie in sechs Wochen um 11,8 Punkte zurück, mit Placebo waren es 9,3 Punkte - ein Unterschied von knapp 28 Prozent.

Auf die Antidepressiva sprachen 58 Prozent an, auf Placebo nur 40 Prozent, was einer Number Needed to Treat (NNT) von 5,4 entspricht.

In Remission (HAM-D unter 8 Punkten oder CDRS unter 28 Punkten) gelangten 43 Prozent mit Antidepressiva, aber nur 29 Prozent mit Placebo.

Wurde zwischen schwer und leicht Depressiven differenziert, so waren die Unterschiede nicht besonders groß: Bei den leichter Depressiven sank der HAM-D-Wert um 2,3 Punkte stärker als mit Placebo, bei den schwerer Depressiven waren es 2,8 Punkte.

Die Remissionsrate war bei den leicht Depressiven mit Arzneien um 17,5 Prozentpunkte höher als mit Placebo, bei den schwer Kranken um 17,2 Prozentpunkte.

Auch bei den Remissionsraten war die Arznei-Placebo-Differenz bei leicht und schwer Depressiven vergleichbar (13,3 versus 12,7 Prozentpunkte).

Wurden jedoch die Patientengruppen einzeln analysiert, gab es einige Unterschiede: So lag bei leicht depressiven Erwachsenen unter Fluoxetin die Verum-Placebo-Differenz beim HAM-D nur bei knapp 1,7 Punkten, bei schwer Depressiven dagegen bei 3,4 Punkten.

Der Unterschied war zwar statistisch nicht signifikant, spiegelt aber letztlich das Ergebnis von Kirsch wider - dessen Analyse beruhte im Wesentlichen auf Erwachsenen unter SSRI.

Auch Gibbons fand hier nun große Unterschiede bei den Ansprechraten: Die Verum-Placebo-Differenz lag bei 23,5 Prozentpunkten bei schwer Depressiven, nur 13,6 Prozentpunkte waren es bei leicht Depressiven.

Gute Wirkung bei leichten und schweren Depressionen

Ganz anders sah es bei Venlafaxin-Retard aus: Hier zeigten sich tatsächlich keine nennenswerten Unterschiede zwischen leicht und schwer Kranken, die Verum-Placebo-Differenz beim HAM-D lag bei 2,5 Punkten (leicht Kranke) und bei 2,2 Punkten (schwer Depressive).

Bei schnell wirksamem Venlafaxin deutete sich wiederum eine leicht stärkere Wirkung bei schwer Depressiven an, allerdings war hier der Unterschied geringer als mit Fluoxetin.

Daten speziell zu geriatrischen Patienten lagen aus vier Studien mit Fluoxetin vor: Hier waren die Unterschiede zwischen Arznei und Placebo bei den Ansprechraten mit 37 versus 27 Prozent und bei den Remissionsraten mit 27 versus 20 Prozent deutlich geringer als in Studien mit jüngeren Patienten.

Fazit: Gibbons Daten legen nahe, dass sowohl bei leicht als auch bei schwer Depressiven moderne Arzneien gut wirken, wobei SSRI bei Erwachsenen mit schwerer Depression etwas besser zu wirken scheinen als bei leicht Depressiven. Dies lässt sich aber nicht auf alle Antidepressiva oder alle Altersgruppen übertragen.

Quelle: www.springermedizin.de

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