HINTERGRUND

Eine Eßstörung der besonderen Art: Wenn sich das ganze Leben nur noch um "Bio" und "ohne Zusatzstoffe" dreht

Ruth NeyVon Ruth Ney Veröffentlicht:

Obst und Gemüse sind gut - Junk-Food ist schlecht - so lautet vereinfacht die Grundregel für gesunde Ernährung. Wer jedoch zu streng mit seinen Schwächen und bei der Auswahl der richtigen Nahrung ist, läuft allerdings Gefahr, krank zu werden.

Für die Eßstörung bei Patienen, die sich nach selbstauferlegten strengen Ernährungsregeln krank und untergewichtig essen, kursiert seit kurzem ein neuer Begriff, die Orthorexia nervosa. Dieser ist allerdings bisher nicht in die internationale oder deutsche Krankheitsklassifikation (ICD 10 oder DSM) aufgenommen worden, und es herrscht offensichtlich Uneinigkeit darüber, ob es sich überhaupt um eine neue Erkrankung handelt.

US-Arzt Steve Bratman prägte den Begriff Orthorexia

Geprägt wurde der Begriff Orthorexia 1997 von dem US-amerikanischen Arzt Dr. Steven Bratman. Er bezeichnete damit eine übersteigerte Fixierung auf gesunde Nahrungsmittel. Für die Betroffenen - Bratman gehörte nach seinen Angaben früher selbst dazu - dreht sich das ganze Leben nur noch ums Essen mit dem Bedürfnis, stets nur das Richtige zu essen und Ungesundes zu vermeiden.

Dabei wird die Nahrungsaufnahme genau geplant, oft schon über Tage im Voraus nach selbstauferlegten Ernährungsvorschriften, und die Einteilung in gesund und ungesund wird immer rigider.

"Selbst bei einer bereits streng veganen Kost lassen Betroffene dann noch immer mehr Lebensmittel weg, die potentiell krebsauslösend oder allergieauslösend oder sonst irgendwie ungesund sind, etwa durch mögliche Zusatzstoffe. Es kommt dadurch zwangsläufig zu Mangelerscheinungen, die sogar lebensbedrohlich werden können", erläutert Christoph Usbeck vom Institut für Allgemeine Psychologie der Universität Düsseldorf im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung".

Zu den körperlichen treten mit der Zeit auch psychische Symptome hinzu. Es kommt zu Antriebsmangel und sozialem Rückzug. Die Betroffenen fokussieren sich dadurch immer mehr auf ihre angeblich gesunde Ernährung - ein Teufelskreis entsteht.

"Das Problem ist, daß Betroffene in ihrem Eßverhalten keinen Krankheitswert sehen. Sie schweben in ihrer Welt mit ihrer Sicht von Körper und Ernährung und sind oft sehr sendungsbewußt", so Usbeck. Sie versuchen auch, andere Menschen in ihrer Umgebung entsprechend zu beeinflussen, und fühlen sich aufgrund der eisernen Selbstdisziplin, die ihre extreme Ernährungsform erfordert, jenen, die Bratwurst und Burger essen, oft überlegen.

Energielosigkeit und gestörter Schlaf führen zum Arztbesuch

Gründe für einen Arztbesuch sind nach Angaben des Düsseldorfer Diplom-Psychologen eher Klagen über eine eingeschränkte psychische und körperliche Leistungsfähigkeit mit Konzentrations- oder Schlafstörungen und Energielosigkeit. Bei der Untersuchung fallen dann außer dem geringen Körpergewicht oft ein extrem niedriger Blutdruck oder eine Bradykardie auf. Erst im Gespräch werde dann eine ausgeprägte Fixierung auf gesunde Ernährung deutlich, etwa eine sehr strenge vegane Ernährung verbunden mit einer übersteigerten Risikobewertung vermeintlich ungesunder Kost.

      Perfektionismus ist bekannt als Risikofaktor für Eßstörungen.
   

Für Privatdozent Dr. Ulrich Schweiger von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Lübeck ist diese Beschreibung typisch für die Verbindung einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung mit Perfektionismus und einer Anorexia nervosa. "Und das ist überhaupt nichts Neues, sondern ist in dieser Form in der Fachliteratur gut beschrieben", so Schweiger zur "Ärzte Zeitung".

So weisen nach seinen Angaben etwa 50 bis 60 Prozent der Patienten mit Anorexia nervosa und 40 Prozent der Bulimie-Patienten eine Zwangsstörung als Komorbidität auf. So sei natürlich auch bekannt, daß Patienten ihre Vorstellungen von gesunder Ernährung ins Zwanghafte übersteigern können und daß dieser perfektionistische Stil im Umgang mit Nahrungsmitteln und mit Informationen über Nahrungsmittel ein Risikofaktor für eine Eßstörung ist. "Man muß aber in der psychiatrischen Diagnostik nun nicht für alle Kombinationen, so typisch sie auch sein mögen, immer neue Namen erfinden", betont der Psychiater.

Doch warum neigen manche Menschen eher als andere dazu, den Bogen bei gesunder Ernährung zu überspannen und ins Extreme zu verfallen? "Eine Hypothese geht davon aus, daß diese Form der Ernährung mit ihrer strengen Nahrungsauswahl es den Betroffenen ermöglicht, eine gewisse Kontrolle auszuüben, die ihnen in anderen Lebensbereichen abhanden gekommen ist. Es würde also eine Funktionalität bestehen, wie sie auch bei Anorexia-Patienten bekannt ist", erläutert Usbeck. Die Fixierung auf gesundes Essen könnte daher ein Bewältigungsversuch sein, Ängste und ein geringes Selbstwertgefühl in den Griff zu bekommen.

Die Therapie ist ähnlich wie bei Magersüchtigen. Zusätzlich zu Ernährungsmaßnahmen bei extremem Untergewicht sei eine Psychotherapie wichtig, so Usbeck.



STICHWORT

Orthorexia nervosa

Der Begriff Orthorexie (griech. ortho = richtig und orexis = Appetit) geht auf den US-Mediziner Dr. Steve Bratman zurück. Betroffene sind nach seiner Definition besessen davon, sich gesund zu ernähren. Sie haben so große Angst vor belasteten Nahrungsmitteln, Chemikalien, Fett oder anderen Zusatzstoffen, daß sie sich strenge Ernährungsregeln auferlegen, die dann zwanghaft eingehalten werden müssen. Dabei steht nicht so sehr die Menge des Essens im Vordergrund wie bei Magersüchtigen oder Bulimie-Kranken, sondern eher die vermeintliche Qualität der Nahrungsmittel. Sie neigen daher auch dazu, sich Rationen ganz spezieller Lebensmittel mitzunehmen, wenn sie ausgehen oder eingeladen sind.

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