Mögliche Therapie?

Tiefe Hirnstimulation schaltet Anorexie ab

Gezielte Stromimpulse in der Area subcallosa können offenbar das Körpergewicht von fast jeder zweiten Anorexiepatientin wieder normalisieren. In einer kleinen Studie stieg der BMI deutlich an, auch Depressionen und Zwänge gingen zurück.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Tiefe Hirnstimulation: Die Implantation der Elektroden verlief bei fast allen Studienteilnehmerinnen ohne größere Komplikationen.

Tiefe Hirnstimulation: Die Implantation der Elektroden verlief bei fast allen Studienteilnehmerinnen ohne größere Komplikationen.

© Medtronic/BVMed

TORONTO. Je länger eine Anorexia nervosa persistiert, umso schwieriger ist in der Regel die Therapie. Da ein beträchtliches Risiko besteht, an der Magersucht zu sterben, sind auch unkonventionelle Methoden gefragt. Inzwischen gibt es Versuche, den Appetit mit der tiefen Hirnstimulation (THS) wieder anzuregen. Ein Team um Dr. Nir Lipsman von der Universität in Toronto hat dies bei 14 Patienten mit chronischer Anorexie versucht – in der bislang größten Studie zur THS in dieser Indikation (wir haben kurz berichtet).

Ausgewählt wurden ausschließlich chronisch Kranke, die über Jahre hinweg immer wieder schwere Rückfälle mit Klinikeinweisungen sowie Zwangsernährung entwickelt und schlecht auf diverse Therapieprogramme angesprochen hatten. Für die Studie mussten sie sich jedoch in einem psychisch und körperlich einigermaßen stabilen Zustand befinden.

Alle 16 Patienten waren Frauen, das Alter lag im Mittel bei 34 Jahren, und die Krankheit war im Schnitt mit 17 Jahren diagnostiziert worden. Viele der Frauen hatten im Laufe der Krankheit einen BMI von 10 oder darunter erreicht, eine Frau hatte sogar eine Krankheitsphase mit einem BMI-Minimum von 7,2 überlebt. Praktisch alle Teilnehmerinnen zeigten weitere psychische Probleme, zumeist Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen sowie posttraumatische Belastungsstörungen; neun nahmen Antidepressiva (Lancet Psychiatry 2017, online 23. Februar).

Jede zweite Frau erreichte BMI über 17

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Anorexie: Strohhalm Hirnstimulation

Die Hirnchirurgen um Lipsman implantierten die Elektroden für die THS in die Area subcallosa des Cingulum (Brodmann-Areal 25). Hier liegt ein wichtiger Knotenpunkt für die affektive Kontrolle sowie das Selbstwahrnehmungs- und Belohnungssystem. Mit einer Stimulation der Area subcallosa hatten Forscher zuvor auch schon erfolgreich Depressionen gelindert. In einer Pilotstudie mit sechs Patienten sah das Team um Lipsman einen gewissen Erfolg gegen Anorexie bei einer THS in diesem Bereich.

Die Operationen verliefen bei fast allen Frauen ohne größere Komplikationen. Bei einer musste aufgrund einer Infektion der Schrittmacher erneut implantiert werden. Bei einer weiteren kam es Monate nach der Implantation zu einem Anfall, wobei der Zusammenhang mit der THS unklar ist. Ein weiterer Anfall bei einer anderen Patientin wurde auf eine Hyponatriämie zurückgeführt.

Zwei der 16 Frauen ließen den Schrittmacher nach einiger Zeit wieder entfernen, bei einer vermuten die Studienautoren, dass die Gewichtszunahme der Hauptgrund dafür war. Intrakranielle Blutungen durch den Eingriff wurden nicht beobachtet.

Vor der Implantation der Elektroden lag der BMI der Frauen zwischen 11,1 und 16,6. Im Laufe von einem Jahr nahm er von im Mittel 13,8 auf 17,3 zu. Mit einem Cohens'd von 1,34 ergab sich eine relativ große Effektstärke.

Bei neun Frauen sahen die Ärzte eine deutliche Gewichtszunahme, acht erreichten einen BMI über 17, sechs einen normalen BMI von mindestens 18,5 und zwei sogar von über 20. In der Regel dauerte es etwa drei Monate, bis das Gewicht zunahm. Bei vier von acht Frauen mit Binge-Eating-Episoden kamen diese fast ganz oder komplett zum Erliegen, bei den übrigen änderte sich jedoch wenig. Fünf Patientinnen schienen nicht zu profitieren, bei ihnen blieb der BMI konstant oder nahm nur geringfügig zu.

Auch Depressionen verschwinden

Deutlich stabilisiert hatte sich nach einem Jahr der psychische Zustand. Der Wert auf der Hamilton-Depressionsskala sank von im Mittel 19,4 auf 8,8, der des Beck Anxiety Inventory von 38 auf 27 Punkte. Zwangsstörungen gingen ebenfalls deutlich zurück, und die Lebensqualität verbesserte sich. Die psychischen Veränderungen zeigten sich bereits in den ersten drei Monaten, also noch vor der Gewichtszunahme.

Das Glukose-PET offenbarte nach zwölf Monaten einen veränderten Metabolismus in mehreren Hirnregionen, die bei Anorexie betroffen sind. Die Ärzte um Lipsman werten dies als Zeichen, dass die THS direkt Anorexie-relevante Schaltkreise moduliert. Da die affektive Stabilisierung der Gewichtszunahme vorausgeht, sehen die Forscher dies als weiteren Hinweis auf eine vornehmlich limbische Beteiligung bei der Anorexie. Hirnregionen, die den Stoffwechsel und Appetit regulieren, sind nach den PET-Daten wohl weniger involviert.

Das Fazit der Ärzte: Die THS kann bei chronisch kranken Anorexiepatienten innerhalb eines Jahres eine beachtliche Gewichtszunahme erreichen. Ob der Erfolg anhält, muss sich jedoch noch zeigen. Klar ist auch, dass die Hirnstimulation nicht jeder Patientin hilft. Inklusive der beiden Frauen, die sich die Elektroden wieder entfernen ließen, hatte nur rund die Hälfte der Betroffenen auf die Stimulation mit einer deutlichen Gewichtszunahme angesprochen. Zudem gab es keine Kontrollgruppe. Es wären nun also größere randomisiert-kontrollierte Studien nötig, um einen Therapieerfolg klar zu belegen.

Studienergebnisse in Kürze

» Vor der Implantation der Elektroden für die THS lag der BMI der Frauen zwischen 11,1 und 16,6. Im Laufe von einem Jahr nahm er von im Mittel 13,8 auf 17,3 zu.

» Bei neun Frauen kam es zu einer deutlichen Gewichtszunahme, acht erreichten einen BMI über 17, sechs einen normalen BMI von mindestens 18,5 und zwei von über 20.

» Es dauerte etwa drei Monate, bis das Gewicht zunahm.

» Bei vier von acht Frauen mit Binge-Eating-Episoden kamen diese fast ganz oder komplett zum Erliegen, bei den übrigen änderte sich jedoch wenig.

» Fünf Patientinnen schienen nicht zu profitieren, bei ihnen blieb der BMI konstant oder nahm nur geringfügig zu.

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