Kann der virtuelle Patient klinische Studien aus der Krise führen?

MÜNCHEN (gvg). Das Sylvia Lawry Center for Multiple Sclerosis Research in München ist ein internationales Forschungszentrum für Multiple Sklerose (MS). Es wurde 2001 mit einer Anschubfinanzierung von fünf Millionen Euro gegründet. Eines der Ziele ist der Aufbau einer weltweiten Patientendatenbank, um virtuelle Patienten für klinische Studien zu generieren. Ob das klappt, werden erste Daten zeigen, die noch in diesem Jahr vorgestellt werden sollen. Mit Dr. Martin Daumer, dem stellvertretenden wissenschaftlichen Leiter der Einrichtung, sprach Philipp Grätzel von Grätz von der "Ärzte Zeitung".

Veröffentlicht:

Ärzte Zeitung: Klinische Studien werden immer schwieriger, aufwendiger, teuerer. Ihr Vorschlag zur Lösung dieses Problems ist der virtuelle Patient. Was kann der bringen?

Daumer: Es gibt zwei Probleme: Zum einen wird es bei einer schon heute behandelbaren Erkrankung wie der Multiplen Sklerose immer schwieriger, Patienten zu finden, die bereit sind, an einer Placebostudie teilzunehmen. Und in Studien, in denen neue Medikamente gegen die Standardtherapie getestet werden, brauchen Sie immer größere Patientenzahlen, um statistisch auswertbare Ergebnisse zu erhalten, weil die Wirkungsunterschiede da natürlich geringer sind als in einer Placebostudie.

Wir wollen zunächst das Placeboproblem angehen und mit Hilfe einer Datenbank von aktuell 19 000 Patienten mit über 75 000 Patientenjahren virtuelle Studienteilnehmer rekrutieren, die in den Placebogruppen mitlaufen, um so die Zahl der Patienten, die tatsächlich Placebos nehmen müssen, zu verringern. Wenn wir mittelfristig genug Daten über die Behandlungsarme gesammelt haben, könnten wir dasselbe auch mit Kontrollgruppen machen, die eine gängige Standardtherapie erhalten.

Ärzte Zeitung: Wo kommen die Informationen in dieser Datenbank her?

Daumer: Aus vielen klinischen Studien der letzten Jahre. Es ist uns gelungen, praktisch alle in der MS-Behandlung aktiven Firmen sowie die großen Studienzentren davon zu überzeugen, daß sie uns die Datensätze ihrer Placebogruppen überlassen. Das klappte, weil unser Projekt von einer großen Zahl internationaler MS-Fachgesellschaften getragen wird und weil namhafte MS-Forscher in unserem medizinischen Beirat sitzen. Auch die Zulassungsbehörden, allen voran die US-amerikanische FDA, haben starkes Interesse an dem virtuellen Patienten. Die sehen alle das wachsende Problem, vor dem die klinischen Studien in Zukunft stehen werden.

Ärzte Zeitung: Die "Schöpfung eines virtuellen Patienten" - wie haben wir uns das praktisch vorzustellen?

Daumer: Es gibt mehrere Wege: Am einfachsten ist es, zu jedem Patienten der Verumgruppe entsprechend dessen prognostischen Faktoren im Datenpool einen "Zwilling" zu suchen. Bei der MS wären solche Faktoren etwa Alter, Geschlecht, Zahl der Schübe oder Dauer der Erkrankung.

Eine weitere Möglichkeit besteht darin, aus dem Datenpool alle Patienten zu nehmen, die den Einschlußkriterien der betreffenden Studie genügen und diese Gruppe dann entsprechend der Eigenschaften der Patienten in der Verumgruppe zu adjustieren. Schließlich kann man versuchen, mathematische Modelle zu entwickeln, mit denen wir aufbauend auf den Informationen der Datenbank zu jedem beliebigen Patienten in der Verumgruppe den wahrscheinlichen Krankheitsverlauf bei einer hypothetischen Placebobehandlung berechnen können.

Ärzte Zeitung: Wie weit sind Sie schon?

Daumer: Wir haben mit mehreren Studienleitern von gerade laufenden Phase-II- und -III-Studien vereinbart, daß wir entsprechend der Zusammensetzung der Verumgruppen Kontrollgruppen generieren können, die nach Abschluß der jeweiligen Studie dann mit den tatsächlichen Kontrollgruppen verglichen werden. Wir fragen also: Wäre bei der Studie dasselbe herausgekommen, wenn die reale Placebogruppe ganz oder teilweise durch unsere virtuellen Patienten ersetzt worden wäre? Die ersten Daten dazu hoffen wir auf dem Workshop der US-amerikanischen Multiple Sklerose-Gesellschaft NMSS im Dezember 2004 in Washington zu präsentieren.

Ärzte Zeitung: Wissen Sie von ähnlichen Versuchen bei anderen Erkrankungen?

Daumer: Einige Pharmafirmen haben teilweise große Datenbanken aufgebaut, um mit den Datensätzen eigener Studien Szenarien durchzuspielen. In dem Maßstab wie wir und unter Einbeziehung mehrerer Firmen und Forschungsgruppen macht das unseres Wissens sonst keiner. Deswegen ist das Projekt für die FDA interessant, denn wenn wir bei MS die klinischen Studien vereinfachen könnten, dann kann das auch bei anderen Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson, Demenz oder in onkologischen Studien klappen.

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