Wenn aus dem turboschnellen Rennwagen eine Schnecke wird

GÖTTINGEN (pid). "Das geht schneller als bei Michael Schumacher." Professor Wolfgang Brück nimmt die Formel Eins zur Hilfe, um die enorme Geschwindigkeit zu beschreiben, mit der Nervenfasern elektrische Impulse weitergeben. Normalerweise doziert der Direktor der Abteilung Neuropathologie an der Universität Göttingen vor Erwachsenen. An diesem Samstag aber hat er ein junges Publikum: Etwa 40 Kinder und Jugendliche sind mit ihren Eltern aus dem gesamten Bundesgebiet nach Göttingen gereist, um sich von den Experten des Universitätsklinikums über jene Krankheit zu informieren, die sie alle betrifft: Sie leiden an Multipler Sklerose.

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Noch vor wenigen Jahren hätte ihnen niemand diese Diagnose stellen können. Bis dahin war man davon ausgegangen, daß die Krankheit ausschließlich im Erwachsenenalter auftritt. Erst Ende der 90er Jahre fand der Göttinger Neuropädiater Professor Folker Hanefeld in einer Studie heraus, daß sogar schon sehr kleine Kinder an MS erkranken können.

Inzwischen ist das Göttinger Klinikum zur bundesweiten Anlaufstelle für MS-kranke Kinder und Jugendliche geworden. Aus der kontinuierlichen Betreuung der jungen Patienten entstand die Idee, eine spezielle Informations- und Diskussionsveranstaltung anzubieten.

Die hochkarätigen Experten haben sich vorgenommen, ihr medizinisches Fachwissen so weiterzugeben, daß alle ihre Ausführungen gut verstehen. Manche Kinder hören bei den Vorträgen im Hörsaal einfach nur zu, andere schreiben fleißig mit. Brück erklärt die Krankheit recht anschaulich. "Das Zentrale Nervensystem arbeitet ähnlich wie ein Elektroschaltkasten", sagt der Neuropathologe.

Während in dem Schaltkasten viele Stromkabel miteinander verbunden sind, sind es in Hirn und Rückenmark die Nervenfasern. Sowohl die Stromkabel als auch die Nervenfasern seien von einer Isolationsschicht umhüllt, "damit der Strom schnell fließen kann". Die enorme Geschwindigkeit des Nervensystems macht der Vergleich mit "Schumi" deutlich: Mit 400 Stundenkilometern ist die Informationsübertragung in den Nervenfasern deutlich schneller als jeder Ferrari.

Anders bei MS-Kranken, bei denen die Isolationsschicht um die Nervenfasern geschädigt ist: Bei ihnen läuft der "Strom" in den Nervenfasern nur noch mit vier Stundenkilometern, also im Schneckentempo. Brück erklärt, wie sich die dafür verantwortliche Fehlsteuerung des Immunsystems auswirkt: Statt körperfremde Bakterien anzugreifen, greift es die Schutzschicht an. "Es frißt die Hülle von den Nervenkabeln weg, die Nervenfasern liegen blank." Folge sind vor allem Bewegungs- und Sehstörungen und Taubheitsgefühle.

Auch wenn die Mediziner vor allem die jungen Patienten ansprechen wollen, verfallen sie bei ihren Vorträgen immer mal wieder in ihr Fachchinesisch, reden von Oligodendrozyten oder verwenden Abkürzungen, ohne sie zu erklären. Trotzdem bleiben die Patienten interessiert und überlassen es nicht nur den Eltern, Fragen zu stellen. "Warum lösen manche Entzündungsherde etwas aus und andere nicht?", will beispielsweise eine Jugendliche wissen.

Richtig interessant wird es dann für sie in den Workshops. Dort geben die Göttinger MS-Experten praktische Ratschläge für die vielen Probleme, die die Erkrankung im Alltag mit sich bringt. Dabei geht es nicht nur um Einschränkungen in der Schule oder im Beruf, sondern auch um die Frage, ob sie später den Führerschein machen und Auto fahren können und wieviel und welchen Sport sie treiben können.

Gleichzeitig wird das Patientenforum zur Kontaktbörse: Die Kinder und Jugendlichen tauschen ihre E-Mail-Adressen aus, um sich auch weiterhin gegenseitig Tips und Informationen geben zu können, wie sie am besten mit ihrer Krankheit umgehen können.

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