Viraler Jurassic ParK

Lösen urzeitliche Viren Multiple Sklerose aus?

HIV-Infizierte bekommen keine Multiple Sklerose - möglicherweise liegt dies an der antiretroviralen Therapie. Diese hält offenbar auch urzeitliche Viren in Schach, die im menschlichen Erbgut schlummern und möglicherweise MS auslösen, wenn sie erwachen.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Immerhin acht Prozent des menschlichen Erbguts bestehen nach Schätzungen aus archaischer viraler DNA.

Immerhin acht Prozent des menschlichen Erbguts bestehen nach Schätzungen aus archaischer viraler DNA.

© Gernot Krautberger / fotolia.com

NEU-ISENBURG. Es ist sicher eine gewagte Hypothese, die der britische MS-Forscher Julian Gold von der London School of Medicine auf dem MS-Kongress ECTRIMS in Kopenhagen aufgestellt hat. Aber sie lässt sich relativ schnell prüfen und könnte, falls sie stimmt, die MS-Therapie auf den Kopf stellen.

Gold hält es für möglich, dass Viren, die sich seit Urzeiten im menschlichen Genom einnisten, bei MS-Kranken plötzlich wieder aktiv werden und das Immunsystem verwirren.

Ein solcher Jurassic Park der Viren wäre jedenfalls in der Lage, einige seltsame Phänomene zu erklären, auf die Gold und andere MS-Forscher gestoßen sind.

Bisher hielt man humane endogene Retroviren (HERV) für weitgehend harmlos. Immerhin 8 % des menschlichen Erbguts bestehen nach Schätzungen aus archaischer viraler DNA.

Dabei handelt es sich vermutlich um Reste von Keimbahninfektionen, die sich im Lauf der Evolution angesammelt haben. Gelingt es Retroviren, ihr Erbgut in Keimzellen einzuschleusen, werden sie von Generation zu Generation weiter vererbt.

In der Regel verlieren sie dabei aber rasch die Fähigkeit, sich zu replizieren, weil sich Mutationen in ihrer DNA ansammeln. Doch einige bleiben erstaunlich stabil und lassen sich unter günstigen Umständen wieder reaktivieren.

Endogene Retroviren bei MS aktiv

Um die Jahrtausendwende haben zwei Forscherteams offenbar genau das beobachtet. Sie sahen in elektronenmikroskopischen Aufnahmen steriler Lymphozytenkulturen Viruspartikel knospen, die auffällig an Retroviren erinnerten.

In beiden Fällen handelte es sich um Kulturen von MS-Patienten. Seither hält sich der Verdacht, dass solche Viren irgendetwas mit MS zu tun haben, dass sie es vielleicht sind, die Lymphozyten bei MS-Kranken auf das Myelin der Nervenfasern hetzen.

Inzwischen, so Gold, haben auch andere Forscher entdeckt, dass HERV bei MS überaktiv sind.

Viren werden schon seit über 50 Jahren als potenzielle Auslöser einer MS gehandelt. Mit Ausnahme vielleicht von Epstein-Barr-Viren (EBV) ließ sich bisher aber kaum klären, ob und in welchem Ausmaß sie an der MS-Entstehung beteiligt sind, sagte Gold.

Von da her scheinen HERV auf den ersten Blick nur eine weitere Gruppe von Viren zu sein, die irgendwie mit MS assoziiert sind.

Doch für Gold steckt vielleicht mehr dahinter, und hier kommt ein weiteres seltsames Phänomen ins Spiel: HIV-Infizierte bekommen praktisch keine MS.

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Gold war aufgefallen, dass es zwar knapp eine Million Publikationen zu HIV und AIDS und fast 300.000 zu MS gibt, aber in der Literatur wurde bisher nur ein Fall von einem HIV-Kranken mit MS unter antiretroviraler Therapie beschrieben, neun weitere potenzielle MS-Erkrankungen werden erwähnt, allerdings liegen hierzu keine weiteren Daten vor, und bei mindestens sechs sei es anhand der Beschreibungen fraglich, ob eine MS vorlag, sagte Gold.

Der Forscher erkundigte sich bei großen HIV-Kliniken in den USA, Europa und Australien, auch dort konnte sich niemand an HIV-Kranke mit MS erinnern.

Schließlich wühlte Gold mit einem Team von Forschern in der Datenbank des NIH und startete eine Analyse von sämtlichen Klinikkontakten der britischen Bevölkerung.

Die Forscher schauten, bei wie vielen Patienten zwischen 1999 und 2011 eine HIV-Infektion in den Klinikakten vermerkt wurde - das waren 21.200.

Als Kontrollgruppe dienten 6,7 Millionen Briten ohne Diagnosen, die auf MS und HIV deuteten. Diese Patienten wurden bezüglich Alter, Geschlecht und Bildungsniveau so ausgewählt, dass die Gruppen vergleichbar waren.

Nun analysierten die Forscher, wie häufig in den folgenden Jahren in beiden Gruppen eine MS bei den Klinikdiagnosen vermerkt wurde. Im Schnitt lagen für die Personen Daten über sieben Jahre vor, 152.000 Personenjahre in der HIV-Gruppe, über 42 Millionen Personenjahre in der Kontrollgruppe.

Bei den HIV-Patienten ließ sich eine MS-Inzidenz von etwa 7 pro 100.000 Personenjahre berechnen, in der Kontrollgruppe lag die Rate bei 18,3 - die MS-Inzidenz war damit bei den HIV-Kranken um 62 % niedriger als in der übrigen Bevölkerung.

Für keinen anderen Einzelfaktor konnte bislang ein besserer Schutz vor MS nachgewiesen werden, sagte Gold in Kopenhagen.

Schützt HIV-Arznei vor MS?

Doch was schützt die HIV-Patienten eigentlich vor einer Multiplen Sklerose, das immunsupprimierende Virus oder die Therapie dagegen? Hier gibt eine weitere Analyse der Klinikdaten Hinweise.

Die britischen Forscher gingen davon aus, dass die HIV-Patienten bei der erstmaligen Erwähnung von HIV in den Klinikakten noch nicht oder noch nicht lange gegen das Virus behandelt wurden, aber ein Jahr später alle eine antiretrovirale Therapie erhielten.

Ließen sie nun bei solchen Patienten das erste Jahr in ihrer Analyse weg, so war die MS-Inzidenz unter einer mutmaßlichen HIV-Behandlung sogar um 80 % geringer als in der Kontrollgruppe. Diese Feststellung, so Gold, spreche sehr für die antivirale Therapie als Schutzfaktor.

Möglicherweise, so der MS-Experte, verhindert die Therapie eine Reaktivierung von HERV.

Stimmt die Hypothese, dann könnte eine antiretrovirale Therapie den MS-Verlauf beeinflussen. Dies soll nun in der kontrollierten Studie INSPIRE geprüft werden.

Dabei werden MS-Patienten mit dem Integrasehemmer Raltegravir oder Placebo behandelt. Endpunkte sind die Reduktion neuer Läsionen und die Lebensqualität.

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