"Dann geht der Teufelskreis von vorne los!"

Von Pete Smith Veröffentlicht:

An den Tod hat er oft gedacht. Damals erschien er ihm wie eine Verheißung. In den 70ern und 80ern, als die Leute um ihn herum gleich reihenweise starben. "Eigentlich habe ich die beneidet", sagt Colin. Er kannte das ja. Wusste, wie sich das anfühlte, mit einer Überdosis eingeliefert zu werden. In den viel besungenen Tunnel einzufahren. "Das war nicht unangenehm."

Sechs, sieben Mal hat er im Laufe seines Lebens dem Tod auf diese Weise ins Auge geblickt. "Aber immer haben sie mich im letzten Moment wieder zurückgeholt." Beim Wachwerden fühlte er sich jedes Mal ausgesprochen schlecht. Und er ärgerte sich. Darüber, dass er wieder aufgewacht war. Aber auch über die Spuren des Defibrillators auf seiner Haut.

Der Tod, das war damals.

Heute genießt Colin das Leben. Es geht ihm gut. "Besser, als es mir je zuvor ging", sagt er. "Außer in meiner Jugend natürlich."

Colins Jugend währte kurz. Aufgewachsen ist er in der Nähe eines Recreation-Centers der US-Army in Bayern. Dort wurden jene Soldaten aufgepäppelt, die Vietnam überlebt hatten. "Da ging logischerweise ziemlich viel mit Drogen." Heroin wurde aus Südostasien importiert, Heroin war billig. Und sogar leichter zu bekommen als Haschisch. Mit 14 setzt sich Colin seinen ersten Schuss. "Ich war neugierig. Ganz einfach."

Einfach geht es zunächst weiter. Colin beendet die Schule. Studiert Industriedesign. Macht sein Diplom. Kommt herum. Und besorgt sich, was er braucht. Der Stoff ist immer noch billig. "Ab und zu musste ich mal verbotene Sachen machen", sagt Colin. "Aber es ging."

Mit seinem ersten Job beginnt der Abstieg. Plötzlich wird seine Zeit knapp. Zeit, die er früher dafür genutzt hat, um sich seine täglichen Dosen Heroin zu besorgen. Rasant nähert er sich seinem Lebensmotto: "Live fast, die hard!" Auch sein Geld wird knapp. Geld, mit dem er sowohl leben als auch fixen soll. So billig ist der Stoff dann doch wieder nicht. Ein Gramm Heroin kostet 400 Mark. Er braucht anderthalb Gramm. Täglich. "Da musste ich halt härtere Sachen machen", deutet er an. "Und dabei wurde ich dann erwischt."

Was das für Sachen waren, dazu will Colin lieber schweigen. Nur so viel: "Es gibt wenig, was ich nicht gemacht habe, um an Geld zu kommen." Jedenfalls können es keine Kavaliersdelikte gewesen sein, denn seine Strafe ist drakonisch: Sieben Jahre Gefängnis! Sieben Jahre weggesperrt, wie er es nennt.

Auch nach der Haft bekommt Colin sein Leben nicht in den Griff. Er versucht, auszusteigen. Wählt den Entzug. Erleidet einen Rückfall. Steigt auf Methadon um. Aber da fehlt ihm der letzte Kick. "Methadon konnte mich nicht daran hindern, auch weiter Kokain und Benzodiazepine zu nehmen", sagt er.

Methadon kann seine Schmerzen nicht lindern

Später kommt noch Crack dazu. Colin infiziert sich mit Hepatitis C. Bekommt Abszesse. Ein Geschwür. Schließlich Osteolyse. Als die Schmerzen größer werden, das Methadon längst nicht mehr hilft, rät ihm seine Ärztin, in ein neues "Modellprojekt zur heroingestützten Behandlung Opiatabhängiger" einzusteigen. Sie meldet ihn an. Im Februar 2003 wird Colin aufgenommen. Der Wendepunkt in seinem Leben.

Heute ist Colin 51. Lange schon hat er kein Kokain oder Crack, keine Benzodiazepine mehr angerührt. In Frankfurt lebt er in einer kleinen Wohnung, in der er sich wohl fühlt. Zur Grundsicherung erhält er Sozialhilfe. Das Geld ist knapp, aber es reicht. Er würde gern arbeiten. Als Industriedesigner oder Buchdrucker, das hat er im Gefängnis gelernt. Ein Job im Sitzen müsste es allerdings sein, denn durch die Osteolyse ist er zu 100 Prozent schwerbehindert. Immerhin haben sich seine Leberwerte gebessert, die knapp überm Normbereich seien, wie er sagt. In den vergangenen Jahren hat er 20 Kilo zugenommen, dabei wirkt er schlank. Er hat Freunde und nähert sich langsam seiner entfremdeten Familie.

Aber vor allem hat Colin Zeit. Zeit zu lesen. Zeit zu schreiben. Zeit für Spaziergänge. Zeit, ins Kino zu gehen. Zeit, um zu leben.

Meist wacht er morgens um sechs, halb sieben auf. Er zieht sich an. Frühstückt in Ruhe. Um halb neun steht er vor der Heroinambulanz, einem lang gestreckten Backsteingebäude im Frankfurter Ostend. Der Eingang ist videoüberwacht. Auf sein Klingeln hin öffnet Dieter Kopelke die Tür. Der gelernte Krankenpfleger ist im Vergabeteam der Ambulanz. Bei ihm gibt Colin Jacke und Tasche ab. Das ist Vorschrift, damit niemand etwas rausschmuggeln kann.

Heroindosis reduziert er um zehn Milligramm pro Woche

Zunächst muss Colin ins Röhrchen pusten. Nur bei null Promille gibt es Diamorphin. Dieter Kopelke händigt ihm seine tägliche Dosis aus. Derzeit ist Colin bei 180 Milligramm morgens und 280 Milligramm abends. Pro Woche geht er mit der Dosis zehn Milligramm herunter. Wenn‘s gut läuft. Im nächsten Jahr würde er gern ganz aufhören. Vorausgesetzt, man lässt ihm die Zeit dazu. Doch im Juni könnte Schluss sein. Dann nämlich läuft das Modellprojekt aus, und für eine Fortführung gibt es derzeit keine Mehrheit im Bundestag.

Für Colin wäre das "die absolute Katastrophe! Dann würde ich genau wieder dort stehen, wo ich aufgehört habe", sagt er. Der Umstieg auf Methadon bärge die Gefahr, dass er wieder dem so genannten Beikonsum verfiele. Kokain und Crack kosten Geld. Viel mehr, als die Sozialhilfe hergibt...

"Dann geht der Teufelskreis von vorne los", bringt es Hamid Zokai, Prüfarzt an der Frankfurter Heroinambulanz, auf den Punkt. Bis die ersten Patienten sterben. An einer Überdosis. Oder an verunreinigten Drogen wie damals in den 70ern, als ein Dealer Heroin mit Plastikhärter streckte und sieben Patienten in den Tod schickte.

"Oder sie sterben an einer Folgeerkrankung, die sie schon seit Jahren haben", befürchtet Hamid Zokai. Denn mit der Heroinambulanz stürbe auch die medizinische Betreuung, da kaum einer der Abhängigen noch die Zeit dafür aufbrächte. "Das Durchschnittsalter dieser Patienten liegt bei 40 Jahren. Das sind keine Jung-Junkies, die seit sechs Monaten süchtig sind, sondern Schwerstabhängige, die unter ihrer Sucht schon ein halbes Leben leiden."

In Deutschland, so Zokai, gibt es rund 120 000 Opiatabhängige. 15 Prozent von ihnen erhalten keinerlei Hilfe. Auf Methadon sprechen sie nicht an. Auch auf andere Behandlungsmethoden nicht. Ausschließlich auf diese Patienten zielt das Heroinprojekt. Auf Menschen wie Colin.

Für ihn ist das Projekt ein Licht am Ende des Tunnels. Ohne das Heroin aus der Frankfurter Drogenambulanz wäre er vielleicht schon nicht mehr am Leben. Mehr noch: Das Diamorphin ist ein Medikament, mit dessen Hilfe Colin wieder gesund werden kann. Dann könnte er auf Heroin ganz verzichten. "Das will ich ja. Es ist das erste Mal, dass ich das wirklich will."

Warum einem derart erfolgreichen Modell das Aus droht, ist Colin völlig unbegreiflich. Er vermutet ideologische Gründe dahinter. Sich selbst empfindet er dabei wie ein Versuchskaninchen. "Wenn irgendwelche Politiker generell gegen die Vergabe von Heroin sind, wieso haben sie dann erst in die Studie eingewilligt?"

Inzwischen hat er sich das Diamorphin injiziert. In den Muskel, da er Venen schon längst keine mehr findet. Er reinigt seinen Platz, wartet eine Weile und holt sich bei Dieter Kopelke schließlich seine Sachen zurück. Dann geht er hinaus in den Tag. Das Yin-Yang-Zeichen auf der Gesäßtasche seiner Jeans wirkt wie ein Symbol der beiden Seiten seines Daseins. Dort der Tod, hier das Leben.

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