Heroin-Epidemie in den USA

Der billige Weg in die dumpfe Wattewelt

In den USA hat eine Drogenepidemie ganze Landstriche fest im Griff. Präsident Trump hat deswegen den nationalen Gesundheitsnotstand ausgerufen. In Ohio kämpft ein Polizist an vorderster Front gegen die Krise.

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Polizist William Felt fährt durch Ashtabula, Ohio. 270 Drogentote gab es in diesem Ort schon dieses Jahr.

Polizist William Felt fährt durch Ashtabula, Ohio. 270 Drogentote gab es in diesem Ort schon dieses Jahr.

© Maren Hennemuth / dpa

ASHTABULA. Der Dealer fährt einen Mietwagen, William Felt hat ihn sofort erkannt. "Von früheren Festnahmen", sagt Felt, während er seinen Wagen langsam über die holprige Straße steuert. Draußen dämmert es, die Luft ist noch warm, es war ein ungewöhnlich heißer Tag in Ashtabula im Nordosten Ohios für Oktober.

Der Polizist fährt vorbei an eingezäunten Wohnanlagen und verrosteten Spielgeräten. Er passiert ein Pflegeheim, das leer steht, seit darin ein Methlabor in die Luft flog und das Haus in Brand setzte. "Methamphetamin war ein großes Problem hier", sagt er. "Aber innerhalb von sechs Monaten hatte jeder in der Drogen-Community nur noch Heroin. Das war so etwa Ende 2015. Jeder hatte Heroin."

Felt kämpft an vorderster Front gegen eine der schlimmsten Opioid-Krisen, die die USA je gesehen haben. Zur Gruppe der Opioide zählen neben Heroin auch Mittel, die als Medikamente eingesetzt werden. Präsident Donald Trump erwägt, wegen der dramatischen Ausmaße nun den nationalen Notstand zu erklären.

Überdosen sind Alltag

Der Polizist gehört zu einer Sonderheit, die sich in Ashtabula County um Drogenkriminalität kümmert, einem Bezirk am Eriesee mit knapp 99 000 Menschen. Fast täglich haben der 46-Jährige und seine Kollegen es mit einer Heroinüberdosis zu tun. 270 waren es in diesem Jahr schon, 29 davon endeten tödlich. In anderen Gegenden sind es noch mehr.

Jedes Mal, wenn wieder jemand irgendwo gefunden wurde, bekommt Felt eine Textnachricht auf sein Handy. Wenn Tote darunter sind, fährt er selbst raus.

Seit 18 Jahren ist er Polizist, vorher war er in der Armee, während der Achtziger war er in Deutschland stationiert. Der 46-Jährige hat die Haare zu einem Bürstenschnitt geschoren, den linken Arm ziert ein Drachentattoo. Er neigt nicht zu Übertreibungen, er wählt seine Worte mit Bedacht. Aber das, was gerade in Ashtabula passiert, frustriert ihn sichtlich.

Felt fährt durch die Straßen der 18 000-Einwohner-Stadt, er zeigt auf Wohnhäuser und Geschäfte, er spricht über Durchsuchungen und Tote und fast immer hat es mit Heroin zu tun. Die Tankstelle, in der Dealer auf Kunden warten. Der McDonalds gegenüber, auf dessen Parkplatz sich die Abhängigen zurückziehen, um sich die Droge sofort zu spritzen. Die Bücherei, vor der abends nun immer eine Streife parkt, weil es dort zu so vielen Überdosen kam. Das Apartment, in der sie eine Frau fanden, die schon einen Tag tot war. Ihr Baby lag im Bett.

Manchmal, wenn Felt und seine Kollegen Häuser durchsuchen, können sie sich kaum bewegen, so vermüllt ist es. Er erzählt von zwei Kindern, sechs und elf Jahre alt, die mit im Haus waren, als der Vater Heroin verkaufte. "Wir haben bei ihnen einen Drogentest machen lassen, um auszuschließen, dass sie nicht unwissentlich Heroin genommen haben."

91 Opfer pro Tag

Es ist das hässliche Gesicht einer Epidemie, die von New Hampshire über Ohio bis nach Kentucky ganze Landstriche fest in ihrem Griff hat und jeden Tag im Schnitt 91 Opfer fordert. Im Jahr 2015 starben nach Angaben der Gesundheitsbehörde CDC rund 52 000 Menschen an einer Überdosis Drogen. Rund 33 000 von ihnen hatten Opioide eingenommen, bei knapp 13 000 von ihnen war es Heroin. Zum Vergleich: In Deutschland gab es 2015 insgesamt 1226 Drogentote. In den USA leben zwar fast viermal so viele Menschen wie in Deutschland, die Todeszahlen sind in den Vereinigten Staaten aber mehr als 40 Mal so hoch.

Schätzungen zufolge sind in den USA zwei Millionen Menschen abhängig von Opioiden. Besonders schlimm ist es in strukturschwachen Regionen im Rust Belt oder den Appalachen. Arme Gegenden, die für den Abstieg der Mittelschicht stehen. Gegenden, in denen Donald Trump viele Anhänger fand.

Katastrophe in drei Akten

Es ist eine Katastrophe in drei Akten. Erst waren es die Schmerzmittel wie Oxycodon oder Hydrocodon, dann kam das Heroin, seit einiger Zeit sind es starke synthetische Mittel wie Fentanyl oder Carfentanyl, die für etliche Todesfälle verantwortlich sind.

Viele der Abhängigen sind über Oxycodon oder andere verschreibungspflichtige Medikamente in die Sucht gerutscht. Die Mittel sind vom chemischen Aufbau her eng mit Heroin verwandt. Seit den Neunzigern wurden sie in den USA sehr freizügig verschrieben. Nicht nur nach schweren Operationen, sondern zum Beispiel schon bei Knieschmerzen.

Studien hatten Hinweise geliefert, dass die Suchtgefahr gar nicht so groß sei. Das ist inzwischen widerlegt.

Eine der vielen traurigen Seltsamkeiten dieser Geschichte ist, dass viele Süchtige auf Heroin umgestiegen sind, weil es schlicht oft der billigere Weg in die selig dumpfe Wattewelt des Opioid-Rausches ist. Während eine einzelne Oxy-Pille auf dem Schwarzmarkt schon mal 50 Dollar kosten kann, gibt es die Dosis Heroin schon für 10 oder 20 Dollar.

In manchen Gegenden ist es so schlimm, dass die Behörden ungewöhnliche Wege beschreiten. Wie in Canton in Ohio, wo der örtliche Gerichtsmediziner im März einen Kühltransporter anmieten musste. Es hatte zu viele Tote auf einmal gegeben, die Hälfte von ihnen war an einer Überdosis gestorben. Oder die Bücherei in Philadelphia, wo die Bibliothekare darin geschult werden, wie sie einem Bewusstlosen das Gegenmittel Naloxon verabreichen.

Bei einer Opioid-Überdosis verlangsamt sich der Atem so sehr, dass nicht mehr genügend Sauerstoff ins Gehirn kommt. Es kann zum Atemstillstand kommen. Naloxon, das in den USA weitläufig unter seinem Markennamen Narcan bekannt ist, blockiert die entsprechenden Rezeptoren im Gehirn, so dass die Wirkung des Opioids aussetzt.

Umstrittenes Gegenmittel

Innerhalb von Sekunden kann das Mittel Leben retten, aber es ist umstritten. Manche Sheriffs wollen nicht, dass ihre Leute es bei sich tragen. Weil sie finden, dass das nicht die Aufgabe der Polizisten sei. Oder weil sie um ihre Sicherheit fürchten.

William Felt hat immer eine Dosis Narcan in seiner Tasche. Einmal, im April oder Mai, habe er einer Frau auf dem Parkplatz der Bücherei so das Leben gerettet, erzählt er. Sie lag auf dem Rücksitz ihres Autos, die Türen standen offen. Am helllichten Tage, das kommt öfter vor, gehört in Städten wie Ashtabula inzwischen zum Alltag.

"Wir finden sie in Höfen, in Autos, in Restaurants. Meistens überdosieren die Menschen in Toiletten, sei es bei jemandem Zuhause oder in einem öffentlichen Gebäude", sagt der Polizist. Überall dort, wo es kostenloses WLAN gibt, sei es besonders schlimm. Weil die Süchtigen von dort ihre Dealer anrufen könnten, ohne Telefonkosten zu haben.

Menschen wie William Felt kämpfen weiter gegen die Krise. Felt fährt nach Hause. Sein Handy bleibt stumm. Ein Tag ohne Überdosis. (dpa)

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