GASTBEITRAG

"Alte Arzneien sind nicht unbedingt sicher und bewährt, neue nicht immer gefährlicher"

Von Professor Kay Brune Veröffentlicht:

In diesen Tagen jährt sich zum 50. Mal die Contergan-Katastrophe. Damals erwies sich ein tierexperimentell und klinisch kaum geprüftes, beliebtes, scheinbar nebenwirkungsarmes Medikament als embryotoxisch. Ein neuer Wirkstoff mit vorzüglichem therapeutischem Effekt bei Schlafstörungen provozierte, weil nicht ausreichend überprüft, eine Katastrophe.

Eine andere alte und bewährte Substanz wurde kürzlich einvernehmlich vom Hersteller und von der Aufsichtsbehörde vom Markt genommen: das Antitussivum Clobutinol. Nach 40 Jahren Anwendung wurde erkannt, dass bei bestimmten Personen - auch Kindern - lebensgefährliche Arrhythmien auftreten. Clobutinol wurde entwickelt und in den Handel gebracht, bevor bekannt war, dass eine Reihe von Arzneimitteln (Antihistaminika, Psychopharmaka u.a.m.) bei genetisch prädisponierten Patienten arrhythmogen sind.

Obwohl Clobutinol weltweit als risikoarmes Hustenmittel galt, das inzwischen patentfrei und billig auch zur rezeptfreien Verfügung stand, brachten erst ein Zufallsbefund und die nachfolgende wissenschaftliche Analyse diese Risiken ans Licht.

Für jeden neuen Wirkstoff sind rigorose Prüfungen obligat

Diese Ereignisse lehren uns:

Manch altbewährter Wirkstoff ist nur scheinbar harmlos! Wir glauben, ihn zu kennen und halten ihn für sicher - aber wohl nur, weil er nicht den rigorosen Prüfungen unterzogen worden ist, die für jeden neuen Wirkstoff vorgeschrieben sind.

Wie nachlässig wir auf diesem Gebiet sind, spiegelt sich auch in der derzeitigen Diskussion um die Sicherheit von Paracetamol (Acetaminophen) wider. Vieles ist über die Substanz bekannt - auch Problematisches. Manches tritt allerdings erst jetzt, mehr oder weniger zufällig, zutage - und wird regelmäßig ignoriert: So gilt bei passageren Schmerzen, etwa Rückenschmerzen, Paracetamol als Mittel der Wahl, obwohl es keine einzige, modernen Qualitätskriterien genügende Studie gibt, die belegt, dass Paracetamol hier überhaupt wirksam ist. Darüber hinaus nehmen die meisten Verbraucher an, Paracetamol sei sehr harmlos.

Bereits bei Anwendung der zugelassenen Höchstdosis von 4 g im rezeptfreien Gebrauch jedoch belegen neue Arbeiten eine passagere, aber dennoch deutlich messbare Leberschädigung. Wenn intendiert oder versehentlich die Höchstdosis von 4 g überschritten wird - was häufig vorkommt, wenn zum Beispiel bei grippalen Infekten "gegen den Kopfschmerz" 3 g Paracetamol genommen werden und dann, ohne genau hinzuschauen, zur Nachtruhe noch ein medizinisches Heißgetränk mit Paracetamol zugeführt wird, droht ein akuter Leberzerfall. Auch die Annahme, bei "Rheuma" sei Paracetamol sicher, scheint nicht zu stimmen. Werden über längere Zeit Dosen über 2 g pro Tag eingenommen, steigt die Inzidenz der Ulkusblutungen und Herzinfarkte an, ja, sogar Magen-Darm-Schäden nehmen zu. Auch Paracetamol ist eben ein Zyklooxygenasehemmer.

Auch die "gute, alte" Acetylsalicylsäure zeigt beim näheren Hinschauen Tücken. So fehlen zum Beispiel moderne Studien bei unterschiedlichen Schmerzzuständen, die helfen würden, die richtige Indikation und Dosierung zu definieren. Und die besondere Eigenschaft der Acetylsalicylsäure, nämlich die Hemmung der Blutgerinnung für mehrere Tage, sollte eigentlich ein Ausschlusskriterium für ihren Gebrauch bei Schmerzen sein.

Hat zum Beispiel ein Patient Acetylsalicylsäure wegen akuter Schmerzen genommen und muss er dann etwa nach einem Unfall operiert werden, steht besonders der Neurochirurg häufig vor dem Dilemma, nicht zu operieren und damit schwere Folgeschäden zu verantworten oder zu operieren und mit einer inadäquaten Blutgerinnung zu kämpfen, die ebenfalls zu schweren Schäden führen kann.

Würde heute der Antrag anstehen, Paracetamol oder Acetylsalicylsäure für die Indikation Schmerzzustände, Rheuma oder Fieber zuzulassen, würde wohl keine Behörde diesem Antrag entsprechen.

Gleiche Sicherheitsstandards für alle Wirkstoffe fehlen

Fazit: Was uns fehlt, sind gleiche Sicherheitsstandards für alle Wirkstoffe, auch die alten!

Mit als Generika erhältlichen, patentfreien Wirkstoffen kann man allerdings nicht viel Geld verdienen, um einen Teil davon wieder in die Forschung zu stecken. Auch können Forschungsergebnisse eines Herstellers von allen anderen (Generika-) Produzenten verwendet werden. Dass somit die Generika-Hersteller nicht unbedingt bereit sind, Sicherheitsforschung mit Generika zu unterstützen, ist nachvollziehbar.

Da aber die Öffentlichkeit von den niedrigen Preisen der Generika profitiert, obliegt es meines Erachtens der öffentlichen Hand beziehungsweise den Kassen, entsprechende Studien zur Definition der Indikationen und unerwünschten Wirkungen nach modernen Standards durchzuführen, um die Bevölkerung zu schützen und Ärzten wissenschaftlich fundierte Entscheidungshilfen an die Hand zu geben.

Solche Studien könnten auch helfen, vielleicht in der Tat bewährte, ältere Wirkstoffe auf dem Markt zu halten, von dem sie heute oft verschwinden, weil ein - vielleicht unbegründeter - Risikoverdacht auf sie fällt und dem Stand der Wissenschaft entsprechende Studienergebnisse fehlen. Wenn diese alten Wirkstoffe eine moderne Nachprüfung überstehen, wäre es in der Tat möglich, von "bewährten, geprüften und preiswerten" Wirkstoffen zu sprechen und sie weiterhin guten Gewissens kostensparend einzusetzen.

ZUR PERSON

Professor Kay Brune ist Doerenkamp-Professor am Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie und Toxikologie der Universität Erlangen-Nürnberg. Sein klinisches Interesse gilt der Pharmakotherapie von Patienten mit Schmerz und Entzündung. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit sind die Erforschung von Zyklooxygenasen, Zytokinen und anderen Schmerzstoffen sowie die Pharmakokinetik von Schmerzmitteln. Der Pharmakologe ist Mitglied der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, des Ausschusses für Rezeptfreiheit des BfArM und Sprecher der Kommission für Öffentlichkeitsarbeit der Deutschen Gesellschaft für Experimentelle und Klinische Pharmakologie und Toxikologie.

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