Paradigmenwechsel in der Rückenschmerz-Therapie setzt sich durch

BERLIN (eb). Rückenbeschwerden verursachen häufiger Arbeitsunfähigkeit als jede andere Diagnose. Nach neuesten Untersuchungen haben fast fünf Prozent der Bevölkerung Rückenschmerzen mit hoher Beeinträchtigung. Krankengymnastik und Sport statt Schonung ist inzwischen die Devise. Denn Bewegung verbessert nicht nur die Körperkoordination, Gelenkfunktion, Muskelkraft- und Ausdauersteigerung - sondern kann auch zu positiven Verhaltensänderungen führen.

Veröffentlicht:
Paradigmenwechsel in der Rückenschmerz-Therapie setzt sich durch

© Foto: ABDA

Daran hat Professor Jan Hildebrandt, Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), auf dem 33. Interdisziplinären Forum "Fortschritt und Fortbildung in der Medizin" der Bundesärztekammer in Berlin erinnert. Allein bei diesen Patienten entstünden jährlich Kosten von durchschnittlich rund 7116 Euro pro Patient. Auch in der Rehabilitationsbehandlung seien Rückenbeschwerden der größte Kostenfaktor.

"Die klassische medizinische Sichtweise stößt bei Rückenbeschwerden an ihre Grenzen", erklärte Hildebrandt. "Die enorm verbesserten bildgebenden Möglichkeiten können spezifische Erkrankungen und die Ursache von Ischialgien klar darstellen, zum Verständnis von Rückenschmerzen haben sie jedoch nur einen sehr begrenzten Beitrag geliefert." Die Fülle an therapeutischen Ansätzen, ob klassisch konservativ, minimal-invasiv oder offen operativ konnte ebenfalls nicht zu einer entscheidenden Verringerung der Krankheitszeit beitragen.

"Entsprechend haben sich bei streng wissenschaftlichen Untersuchungen die meisten Verfahren zur Behandlung akuter und chronischer Rückenschmerzen als nicht effektiv erwiesen", sagte Hildebrandt. So habe man die Wirksamkeit der meisten Injektionen wie muskuläre Infiltration oder Facettenblockaden, Bettruhe, Korsetts oder Bandagen und auch die von physikalischen Therapieverfahren wie Wärme- und Kälteanwendungen sowie Elektrotherapie, Bäder, Akupunktur und elektrische Nervenstimulation (TENS) bisher noch nicht nachweisen können, heißt es in einer Mitteilung der BÄK. Auch Massage würde kontrovers diskutiert, sei aber allenfalls ebenso wie Chirotherapie nur schwach und nur in Kombination mit anderen Maßnahmen wirksam, so Hildebrandt.

Inzwischen setze sich jedoch in Deutschland allmählich ein Paradigmenwechsel in der Behandlung bei Rückenschmerzen durch, bei dem frühzeitige Aktivität und körperliche Belastung zur Verhinderung einer Chronifizierung ebenso wichtig seien wie die rechtzeitige Erkennung psychosozialer Belastungsfaktoren.

"Dabei muss eine alltagstaugliche Rückenbelastbarkeit angestrebt werden, verbunden mit einer vermehrten Patientenkompetenz und einer sich daraus ableitenden verminderten Inanspruchnahme des medizinischen Systems. Die Patienten müssen dabei - unter kontrollierten Bedingungen - die Erfahrung machen, dass Bewegung und Belastung ihnen nicht schaden, sondern im Gegenteil zur Aufrechterhaltung des gesamten körperlichen Systems notwendig sind", betonte der Experte.

Ein sport- oder krankengymnastisches Training könne auf diese Weise - neben den primären Zielen der Verbesserung der Körperkoordination, Gelenkfunktion, Muskelkraft- und Ausdauersteigerung - auch zu positiven Verhaltensänderungen führen. Darüber hinaus werde ein weiterer Effekt durch die Stabilisierung und Kräftigung der für die Biomechanik wichtigen Anteile der Rumpfmuskulatur erreicht. "Allerdings ist dieses therapeutische Vorgehen bei chronifizierten Schmerzen nicht billig zu haben und wird derzeit von den Krankenkassen kaum bezahlt", kritisierte Hildebrandt.

Mehr zum Thema
Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen
Lesetipps
Wo lang im Gesundheitswesen? Der SVR Gesundheit und Pflege empfiehlt mehr Richtungspfeile für alle Akteure.

© StefanieBaum / stock.adobe.com

Sachverständigenrat Gesundheit und Pflege

Gesundheitsweise empfehlen Primärversorgung für alle – und Quotierung der Weiterbildung

„Wenn die Politik Wissenschaftlern sagen würde, wir wollen dieses oder jenes Ergebnis, ist das Propaganda.“ Klaus Überla – hier im Treppenhaus seines Instituts – über Einmischungen aus der Politik.

© Patty Varasano für die Ärzte Zeitung

Interview

STIKO-Chef Überla: RSV-Empfehlung kommt wohl bis Sommer

Dr. Iris Dötsch Fachärztin für Innere Medizin, Diabetologin und Ernährungsmedizinerin hat die Hauptstadtdiabetologinnen, eines neues Netzwerk für Frauen in der Diabetologie, gegründet.

© snyGGG / stock.adobe.com

Hauptstadtdiabetologinnen

Ein Netzwerk für Diabetologinnen