Neue Ära

Neurogenetischen Therapien gehört die Zukunft

Die Behandlung der Zukunft könnte neurogenetisch erfolgen: Genmodulatoren stoppen bereits eine spinale Muskelatrophie, bald vielleicht auch Morbus Huntington und Alzheimer. Erste Studien lassen hoffen, dass die neuen Verfahren auch funktionieren.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Modell einer DNA: Neurogenetische Therapien nähren Hoffnungen bei Forschern.

Modell einer DNA: Neurogenetische Therapien nähren Hoffnungen bei Forschern.

© adam121 / stock.adobe.com

LISSABON. Noch vor kurzem wurden Kinder mit einem schweren Verlauf einer spinalen Muskelatrophie (SMA) kaum zwei Jahre alt. Heute überleben sie dank einer genmodulierenden Therapie nicht nur, viele können sich sogar normal entwickeln – jedenfalls dann, wenn die Therapie rechtzeitig beginnt.

Die Einführung von Medikamenten wie Nusinersen gegen SMA markiert den Beginn einer neuen Ära in der Medizin: Erstmals können Ärzte nicht nur Erbkrankheiten funktionell korrigieren, sondern auch Volkskrankheiten wie Alzheimer auf eine völlig neue Weise therapeutisch angehen.

Zwar hat sich noch kein übergreifender Name für Therapien mit Antisense-Oligonukleotiden, interferierenden RNA-Fragmenten oder Chromatinmodulatoren durchgesetzt, aber letztlich handelt es sich hier um Eingriffe in die Genexpression, also in diejenige Maschinerie, welche die genetischen Informationen ausliest und übersetzt, zum Beispiel in lebenswichtige Proteine.

Verfahren auch für nicht genetisch bedingte Krankheiten

Diese Maschinerie ist zwar äußerst komplex, bietet damit aber auch viele Ansatzpunkte für Verfahren, die hochspezifisch nur die Expression eines einzigen Gens beeinflussen. Damit lassen sich Gendefekte auf der Expressionsebene ausbessern, ohne dass Gene selbst verändert werden müssen.

Mit solchen Verfahren wollen Forscher aber auch viele andere, nicht genetisch bedingte Krankheiten angehen. So könnte die Überexpression bestimmter Sekretasen den Beta-Amyloidabbau im Gehirn normalisieren und Alzheimer verhindern, auch ließe sich eine Demenz vielleicht durch Blockade der Tau-Produktion stoppen.

An solchen Ansätzen wird in der Tat geforscht. Mit der Einführung des Antisense-Oligonukleotids (ASO) Nusinersen gegen spinale Muskelatrophie im vergangenen Jahr sind Genexpressions-Modulatoren nun keine graue Theorie mehr, sondern in der Praxis angekommen.

Das dürfte viele Wissenschaftler und Unternehmen veranlassen, mit Hochdruck die Entwicklung neurogenetischer Therapien voranzutreiben. Über den Stand der Dinge wurde jetzt auf dem europäischen Neurologenkongress in Lissabon berichtet.

Spinale Muskelatrophie (SMA)

Nusinersen – seit vergangenem Jahr auf dem Markt – ist ein Paradebeispiel für einen hochselektiven Eingriff in die Genexpression. Patienten mit SMA haben ein defektes SMN1-Gen (Survival of Motor Neuron), aber noch mehrere Kopien eines normalen SMN2-Gens.

Dieses ist jedoch wenig produktiv, im Gegensatz zum normalen SMN1-Gen erzeugt es kaum funktionsfähiges SMN-Protein. Grund ist ein Verarbeitungsschritt (Splicing) nach dem Ablesen (Transkription). Dabei fällt ein wichtiger Abschnitt der SMN-RNA heraus. Nusinersen bindet an eine kritische Stelle im SMN2-Primärtranskript und sorgt dafür, dass dies nicht passiert.

Die Folge: Es entsteht wieder mehr funktionsfähiges SMN-Protein. Das ASO kümmert sich in diesem Fall also nicht um das defekte Gen, sondern aktiviert eine Sicherheitskopie. In Studien rettete der Expressionsmodulator auf diese Weise das Leben von schwer betroffenen Kindern.

Noch unklar ist jedoch, wie das Leben dieser Kinder weiter verlaufen wird. Professor Kevin Talbot von der Universität in Oxford, Großbritannien, warnte auf dem Kongress, hier schon von einer Heilung zu sprechen.

Das SMN-Protein ist zwar essenziell für die Entwicklung des neuromuskulären Systems, wird darüber hinaus aber auch in anderen Organen benötigt. So haben lange lebende Kinder mit einer Typ-I-Erkrankung oft auch metabolische, kognitive und kardiale Probleme.

Talbot führt dies auf die Funktion des Proteins zurück: Es bildet Proteinkomplexe, sogenannte snRNP, die selbst Teil der Genexpressionsmaschinerie sind und als Spliceosomen die Verarbeitung von Transkripten vieler anderer Gene regeln. Fällt SMN1 aus, könnte dies zu einer weitreichenden Expressionsdysregulation führen, die nicht nur das Gehirn betrifft.

Die intrathekale Verabreichung von Nusinersen, wie sie derzeit erfolgt, greift mitunter also zu kurz. Sie vermag zwar das Überleben der Motoneurone und damit der Kinder mit Typ-I-Erkrankung zu sichern, wie sich diese jedoch weiterentwickeln, bleibt noch abzuwarten, erläuterte der Experte.

Immerhin zeigen Mausmodelle mit SMN-Mutationen keine gravierende genetische Dysregulation, sodass die Hoffnung besteht, SMN könnte doch vor allem im ZNS gebraucht werden.

Die SMA-Therapie muss zudem im richtigen Zeitfenster erfolgen. Am besten waren die Erfolge mit Nusinersen bislang bei präsymptomatischen Kindern in der NURTURE-Studie. Diese Kinder wurden gleich bei der Geburt auf SMN-Mutationen gescreent, da schon Geschwister betroffen waren.

Hatten solche Patienten zudem mindestens drei SMN2-Kopien, erreichten alle nach einiger Zeit das motorische Entwicklungsniveau gesunder Kinder, solche mit nur zwei Kopien (Typ-I-Erkrankung) schafften dies jedoch meist nicht; nur ein Viertel konnte nach 15 Monaten unabhängig gehen.

Möglicherweise, so Talbot, reicht eine postnatale Therapie hier nicht mehr aus, weil die Motoneuronentwicklung schon in utero leidet oder aber die SMN-Menge bei diesen Kindern nicht ausreichend ist.

Letztlich müsste die Therapie also weiter verbessert werden. Am besten wäre eine intravenöse Behandlung, darüber ließen sich auch andere Organe erreichen. Forscher haben bereits i.v.-taugliche ASO im Mausmodell getestet und damit die Lebensdauer im Vergleich zu Nusinersen mehr als verdoppelt, sagte Talbot.

Das Leben von Kindern mit SMA lässt sich aber auch über einen ganz anderen Ansatz retten: eine klassische Gentherapie. Dabei führen adenoassoziierte Viren (AAV) funktionierende Kopien des SMN1-Gens in die Nervenzellen ein. Eine offene Phase-1-Studie läuft bereits bei 15 Kindern mit SMA-1-Erkrankung.

Alle waren nach knapp 14 Monaten noch am Leben und mussten nicht beatmet werden, normalerweise sind zu diesem Zeitpunkt rund drei Viertel der unbehandelten Kinder mit Typ-1-SMA tot. Zwei Kinder konnten bereits ohne fremde Hilfe gehen und stehen.

Im Gegensatz zu einer ASO-Behandlung, die alle paar Wochen erfolgen muss, genügt bei einer Gentherapie vielleicht eine einzige Infusion. Dies lasse sich derzeit aber noch nicht beurteilen, ebenso könnten die viralen Vektoren für Probleme sorgen, etwa durch neutralisierende Antikörper oder toxische Effekte, erläuterte Talbot.

Morbus Huntington

Auch gegen dieses Leiden werden bereits Expressionsmodulatoren klinisch geprüft. Das Problem ist hier nicht ein Defizit, sondern die Überproduktion eines defekten Proteins infolge einer Mutation im Huntingtin-Gen (HTT). Dort kommt es zu einer Häufung von CAG-Triplets.

Je häufiger das Basentriplett im HTT-Gen auftritt, umso wahrscheinlicher ist ein Ausbruch der Krankheit und umso früher tritt sie in Erscheinung. Da CAG für die Aminosäure Glutamin kodiert, kommt es zu einer Glutaminanreicherung im HTT-Protein, das als Folge unlösbare Aggregate bildet.

Am einfachsten lässt sich dies verhindern, indem man die Genexpression von HTT komplett unterbindet. Auch das ist mit speziellen ASO möglich. Sie binden spezifisch das RNA-Transkript und sorgen dafür, dass es abgebaut und nicht in Protein übersetzt wird.

Das trifft dann allerdings auch die zweite, in der Regel normale Kopie des HTT-Gens. Da HTT bei Erwachsenen keine wichtige Funktion mehr zu haben scheint, ist es offenbar verzichtbar, erläuterte Professor Jean-Marc Burgunder von der Universität in Bern, Schweiz. Sicherheitssignale kamen aus Tierexperimenten jedenfalls nicht, und auch in der erste Phase-I/II-Studie mit dem HTT-RNA-bindenden ASO RG6042 führte die monatliche intrathekale Applikation ausschließlich zu prozeduralen Nebenwirkungen.

In der Studie mit 46 Patienten zeigte sich eine dosisabhängige Senkung der HTT-Werte im Liquor um bis zu 40 Prozent, was auf eine kortikale HTT-Reduktion um 60 bis 80 Prozent deutet. Alle Patienten waren in einem sehr frühen Erkrankungsstadium.

Signifikante Unterschiede zwischen den einzelnen Dosisgruppen gab es bei den motorischen Symptomen zwar nicht, wohl aber wurde ein Zusammenhang zwischen HTT-Level und Symptomatik deutlich: Im globalen Huntington-Score cUHDRS, der auch Kognition und funktionelle Leistung erfasst, schnitten Patienten mit niedrigen HTT-Spiegeln deutlich besser ab als solche mit hohen.

Die Studie, von Ionis und Roche initiiert, läuft nun mit der höchsten Dosierung (120 mg) offen weiter. Die beiden Unternehmen warnen aber vor überzogenen Erwartungen. Die Untersuchung war nicht konzipiert, um klinische Effekte nachzuweisen, dies müsse nun in einer größeren Studie geschehen.

Ob die unvermeidliche Blockade des normalen HTT-Gens während einer solchen Therapie tatsächlich ungefährlich ist, muss sich noch zeigen. Besser wären Allel-spezifische Verfahren, die nur das RNA-Transkript des mutierten Gens erkennen, nicht aber des gesunden.

Auch dies ist möglich: Bestimmte Einzel-Nukleotid-Abweichungen gehen mit der CAG-Erweiterung einher und können als Marker angesteuert werden. Zwei Phase-1/2-Studien mit den Allel-spezifischen ASO WVE-120101 und WVE-120101 des Unternehmens Wave Life Sciences wurden bereits vergangenes Jahr gestartet.

Als Expressionsmodulatoren eignen sich auch kleine RNA-Fragmente, sogenannte Mikro-RNA (miRNA) sowie Interferenz-RNA (iRNA). Sie binden ebenfalls spezifisch an bestimmte Gentranskripte und deaktivieren diese. Geplant wird derzeit eine erste klinische Studie mit einer miRNA gegen HTT.

Das RNA-Konstrukt mit der Bezeichnung AMT-130 muss jedoch über virale Vektoren ähnlich wie bei einer Gentherapie ins Gehirn verfrachtet werden. Die Studie soll noch in diesem Jahr beginnen, erläuterte Burgunder. In Tiermodellen brachten solche Konstrukte die HTT-Produktion praktisch komplett zum Erliegen.

Die ultimative Therapie wäre jedoch die Reparatur des defekten Gens in Nervenzellen über die CRISPR-Cas9-Methode. Auch das scheint im Tierversuch schon halbwegs zu klappen.

Friedreich-Ataxie

Im Prinzip liegt hier ein ähnlicher Defekt wie bei Morbus Huntington vor: Im Frataxin-Gen (FXN) akkumulieren Basentripletts, in diesem Fall GAA. Das Resultat ist aber nicht ein defektes Problemprotein, sondern im Extremfall gar keins.

Das Primärtranskript kann nicht richtig bearbeitet werden, das führt zu einem Frataxin-Mangel bei homozygot betroffenen Patienten. Da Frataxin für die Bildung von Eisen-Schwefel-Komplexen in den Mitochondrien benötigt wird, begünstigt ein Mangel erhöhte Eisenkonzentrationen in den Organellen und oxidative Schäden, was wiederum diverse Nervenleitungen degenerieren lässt – so lautet jedenfalls das derzeitige Erklärungsmodell.

Die noch vorhandene, wenn auch geringer Genexpression sorgt zumindest für funktionsfähige Proteine. Der Schlüssel zur Therapie wäre also eine Verstärkung der Expression. Offenbar beeinflussen die GAA-Repeats die Chromatinstruktur. Das Chromatin wird am FXN-Gen nach der Öffnung zu schnell wieder aufgerollt und kann nicht mehr abgelesen werden.

Zuständig dafür ist die Histon-Deacetylase (HDAC). HDAC-Blocker wie Nicotinamid könnten also die FXN-Expression erhöhen. Allerdings besteht dabei die Gefahr, dass über die Chromatinmodulation auch die Expression anderer Gene verändert wird. Tierexperimenten zufolge ist dies bei einigen neu entwickelten recht spezifischen HDAC-Blockern jedoch nicht der Fall, erläuterte Dr. Massimo Pandolfo von der Universität Brüssel, Belgien.

Familiäre Amyloid-Polyneuropathie (FAP)

Patienten mit familiärer Amyloid-Polyneuropathie (FAP) haben Mutationen im Transthyretin-Gen (TTR). Diese führen zu einer Proteinverklumpung durch zerfallene Fragmente und darüber zu einer Gewebeamyloidose. TTR transportiert unter anderem Schilddrüsenhormone, es wird vor allem in der Leber synthetisiert und in anderen Organen abgelagert.

Eine Lebertransplantation kann die Amyloidose also stoppen, und der Wirkstoff Tafimidis stabilisiert das Protein. Inzwischen steht allerdings auch eine ASO-Therapie kurz vor der Einführung. Der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der EMA hat Anfang Juni die Zulassung für den Wirkstoff Inotersen empfohlen.

Er bindet das TTR-Transkript und deaktiviert es. Eine Phase-3-Studie hat eine deutliche Reduktion der Neuropathiebeschwerden unter der Behandlung ergeben.

Experimentiert wird auch hier mit der neusten Technik aus dem Genlabor: Im Tierexperiment gelang es mit der CRISPR-Cas9-Methode, das mutierte TTR-Gen in der Leber zu reparieren.

Alzheimer

Die neuen Werkzeuge scheinen zudem geeignet, um Proteinablagerungen bei diversen sporadischen Erkrankungen wie Morbus Alzheimer zu vermeiden. Vergangenes Jahr startete Ionis eine erste klinische Studie mit einem ASO gegen Tau-Protein (IONIS MAPTRx). Teilnehmer sind 44 Patienten mit leichter Alzheimerdemenz.

Da massive Tauablagerungen mit Neurodegeneration und kognitiven Symptomen einhergehen, könnte dies eine Therapie sein, die auch noch bei ersten Demenzsymptomen greift – allerdings nur dann, wenn Tau nicht bloß einen Neurodegenerationsmarker darstellt, sondern tatsächlich den Nerventod verursacht.

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