Spinale Muskelatrophie

Aktivierung von Ersatzgen möglich

Durch einen Gendefekt fehlt Patienten mit Spinaler Muskelatrophie der Nervenschutzfaktor SMN1. Mit einem neuen gentechnischen Verfahren ist es gelungen, das Ersatzgen SMN2 zu aktivieren.

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Eine neu entwickelte genetische Technik sorgt bei Patienten mit Spinaler Muskelatrophie dafür, dass ein Nervenschutzfaktor die Motoneuronen am Leben hält.

Eine neu entwickelte genetische Technik sorgt bei Patienten mit Spinaler Muskelatrophie dafür, dass ein Nervenschutzfaktor die Motoneuronen am Leben hält.

© luchshen / Fotolia.de

Mithilfe einer neuartigen genetischen Technik – der sogenannten Antisense-Technik – ist es US-amerikanischen Forschern erstmals gelungen, das Fortschreiten der Spinalen Muskelatrophie (SMA) bei Säuglingen und Kleinkindern zu verlangsamen (Lancet 2017; 17; 388(10063): 3017-3026). Das teilt die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) mit. "Dies ist eine vielversprechende Behandlungsmethode für die häufigste genetische Todesursache im Kindesalter", wird Professor Christine Klein, Leiterin des Instituts für Neurogenetik an der Universität zu Lübeck und Stellvertretende Präsidentin der DGN, in der Mitteilung zitiert.

Keine Heilung, aber Besserung

SMA ist ja eine neuromuskuläre Erkrankung, bei der bestimmte Nervenzellen absterben. Die seltene Erbkrankheit betrifft vor allem Kinder. Je nach Schweregrad der Erkrankung lernen sie dadurch nicht, frei zu sitzen oder alleine zu laufen. Ursache ist ein fehlendes oder defektes Gen für einen Nervenschutzfaktor (Survival Motor Neuron 1, SMN1). Die Folgen sind fatal: Bei der schwersten Verlaufsform überlebte bislang nicht einmal ein Viertel der betroffenen Kinder ohne künstliche Beatmung die Diagnose um mehr als zwei Jahre, heißt es in der Mitteilung weiter. Eine ursächliche Therapie gibt es nicht.

Den Beweis, dass die Antisense-Technik funktionieren kann, haben die Wissenschaftler um Dr. Richard Finkel vom Nemours Children's Hospital in Orlando mit der aktuellen Studie nun erbracht.

Insgesamt 20 Säuglinge, die zwischen der dritten Lebenswoche und dem sechsten Lebensmonat an der Spinalen Muskelatrophie erkrankt waren, behandelten Finkel und seine Kollegen. Sie injizierten den Kindern mehrmals den Wirkstoff Nusinersen in den Liquor des Rückenmarks.

Zwar starben vier der 20 Babys trotz der Behandlung. Zum Zeitpunkt der Studienveröffentlichung aber waren 16 Kinder noch am Leben. 13 von ihnen konnten ohne fremde Hilfe atmen, und bei 14 hatte sich die Muskelfunktion gebessert.

Teilweise konnten diese Kleinkinder nun den Kopf aufrecht halten, greifen, stehen und sogar laufen. Solche Veränderungen hatte man bislang bei unbehandelten Kindern mit dieser Form von SMA nicht beobachtet. "Eine Heilung bedeutet das nicht", kommentiert Professor Christine Klein von der DGN die Studie "aber die Therapie scheint wirksam zu sein."

"Webfehler" behoben

Die Neurologin hebt hervor, dass der molekulare Mechanismus wie geplant funktioniert hat: Nusinersen ist ein synthetisch hergestelltes Molekül, das spezifisch konstruiert wurde, um ein Ersatzgen für SMN1 zu aktivieren, das fast baugleiche SMN2. Es könnte ebenfalls den Nervenschutzfaktor liefern, der die Motoneuronen am Leben hält – allerdings hat SMN2 einen "Webfehler", der die Übersetzung der Erbinformation in das rettende Eiweiß um 75 bis 90 Prozent verringert.

Diesen Webfehler konnte Nusinersen offenbar beheben. Das Molekül heftet sich an einer genau vorausberechneten Stelle an ein Zwischenprodukt, welches die in SMN2 enthaltenen Erbinformationen an die Ribosomen, die Eiweißfabriken der Zellen, übermittelt.

Nusinersen verhindert dadurch, dass aus der SMN2-Boten-RNS ein Abschnitt entfernt wird und die Erbinformation unbrauchbar wird. Die Menge korrekt übersetzter Boten-RNS stieg um das 2,6-Fache auf einen Anteil von 50 bis 69 Prozent.

Durch Messungen der Eiweißkonzentration im Rückenmark konnten die Forscher außerdem belegen, dass die behandelten Kinder um durchschnittlich 63,7 Prozent mehr SMN-Protein bildeten als unbehandelte Kinder. Die Nebenwirkungen des Verfahrens wurden gut toleriert, heißt es in der Mitteilung. Man könne die Sicherheit dieser genetischen Therapie als akzeptabel einstufen, bilanziert Neurologin Klein.

Eine weitere, noch nicht veröffentlichte Studie mit Nusinersen bei älteren Patienten mit Spinaler Muskelatrophie sei ebenfalls erfolgreich, wie die Herstellerfirma mitgeteilt habe. Ende 2016 hat die US-Zulassungsbehörde FDA bekannt gegeben, dass das Medikament für die Behandlung der SMA sowohl bei Säuglingen als auch bei Erwachsenen zugelassen worden ist.

"Dieser Durchbruch weckt begründete Hoffnung auf die so lange erwartete Wende in der translationalen Anwendung von Erkenntnissen aus der Molekulargenetik von der reinen Diagnostik hin zu klinisch-therapeutischen Anwendungen im Sinne einer personalisierten Medizin", so Klein. Die Antisense-Technik könne auch auf andere Erkrankungen angepasst werden, erwartet sie.

Einsatz auch für andere Krankheiten

Während bei SMA die Übersetzung eines Gens optimiert werde, ließe sich stattdessen auch das Ablesen schädlicher Gene verhindern. Im Tierversuch sei dies beispielsweise bei Mäusen schon gelungen, die als Modell für die Huntington'sche Krankheit dienten.

Aber auch in klinischen Studien wurde und wird die Antisense-Technik bereits erprobt, beispielsweise gegen die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), Rheuma, Asthma, Morbus Crohn sowie eine Vielzahl von Krebserkrankungen.

Die genutzte Antisense-Technik könnte auch bei anderen seltenen Erbkrankheiten erfolgreich sein, so Klein. Es gebe mehr als 5000 seltene Erkrankungen, an etwa 80 Prozent davon seien wahrscheinlich die Gene beteiligt. Außerdem manifestiere sich die Mehrzahl der bekannten genetischen Erkrankungen mit neurologischen Symptomen.

"Deshalb setzen wir große Hoffnung in die neurogenetische Forschung", betont Klein. (eb)

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