Verblisterung kommt nicht in Schwung

Die patientenindividuelle Medikamentenverblisterung tritt auf der Stelle: Von den Heimen wird sie nicht angemessen vergütet, in der ambulanten Versorgung fasst sie nicht Fuß. Neue Impulse erhofft sich die Branche jetzt von der Pflegereform.

Christoph WinnatVon Christoph Winnat Veröffentlicht:
Tütchen für Tütchen: Auch die Blisterzentren mit AMG-Herstellungserlaubnis müssen unter Reinraumbedingungen arbeiten.

Tütchen für Tütchen: Auch die Blisterzentren mit AMG-Herstellungserlaubnis müssen unter Reinraumbedingungen arbeiten.

© Berz

Es war der ganz große Bahnhof: Sogar die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt ließ es sich nicht nehmen, den offiziellen Einweihungsfeierlichkeiten beizuwohnen. Als die saarländische Unternehmensgruppe Kohlpharma im Sommer 2009 den Startschuss zur industriellen Produktion ihres Wochenblisters gab ("7x4 Box"), lagen acht Jahre Entwicklungsarbeit hinter ihr.

Zwischen 70 Millionen und 100 Millionen Euro - die Angaben schwanken - wurden in Anlagen und Know-how investiert. "Ich unterstütze alles, was Sie da machen", versprach die Bundesministerin drei Monate vor dem Ende der großen Koalition vollmundig.

Die patientenindividuelle Medikamentenverblisterung, so Schmidt weiter, sei "ein Beitrag zu einem effizienten Ressourceneinsatz in der gesetzlichen Krankenversicherung".

Therapietreue wird erhöht

Heute erinnert an die Euphorie dieses Anfangs nur noch der obligat optimistische Ton offizieller Verlautbarungen. Eineinhalb Jahre lang hatte die Kohl-Tochter 7x4 zusammen mit der AOK Nordost und Berliner Apothekern - federführend war der BVDA (Bundesverband Deutscher Apotheker) - die Verblisterung für Pflegeheimbewohner erprobt: "Die Ergebnisse des Modellprojektes bestätigen unsere Annahme, mit der industriellen patientenindividuellen Verblisterung die Patienten besser und kostengünstiger versorgen zu können", so Kohl-Vorstand Jörg Geller kürzlich.

Die Therapietreue werde erhöht, das Pflegepersonal befürworte die Verblisterung, und neben der Vermeidung stationärer Kosten ergäben sich zusätzliche Einsparungen, weil keine Restmengen mehr in den Müll wanderten.

"Die Rahmenbedingungen sind viel zu komplex"

"Wir waren außerordentlich zufrieden, auch die AOK war außerordentlich zufrieden" bekräftigt Geller auf Nachfrage - räumt nach längerem Insistieren jedoch ein, dass man vom eigentlichen unternehmerischen Ziel, nämlich die patientenindividuelle Verblisterung in der ambulanten Chroniker-Versorgung zu etablieren, weiter entfernt ist denn je.

Ein zweites Pilotprojekt mit Ärzten und Apothekern in Sachsen, bei dem es genau darum ging, stieß bei den Leistungserbringern auf derart geringe Teilnahmebereitschaft, dass eine Präsentation etwaiger Ergebnisse gar nicht erst versucht wurde. Inzwischen hat 7x4 sämtliche Wochenblister-Aktivitäten auf Eis gelegt und seinen Warenbestand zum Kauf angeboten.

"Verblistern ist unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen viel zu komplex", resümiert Geller die Erfahrungen aus dem ambulanten Versuch.

Krankenkassen müssen freiwillig mitmachen

"Jede Krankenkasse muss freiwillig mitmachen, jeder Arzt, jeder Apotheker und auch die Patienten. Nur wenn alle Beteiligten sich freiwillig entscheiden, mitmachen zu wollen, kann man einen Blister abgeben. Wenn man jeden einzelnen Beteiligten erst davon überzeugen muss, mitmachen zu wollen, wird das Ganze sehr, sehr schwierig".

Hinter vorgehaltener Hand freilich wird in der Branche auch über die Kohl-Truppe gelästert. "Es ist eben ein großer Fehler, alles nur nach eigenen Ideen machen zu wollen", urteilt ein Apotheker, der einen Feldversuch von 7x4 und der privaten Inter im Saarland begleitet hat.

Schon die gesonderte Bestellung der Wochenblister über eigens von 7x4 den Apothekern geliehene Laptops habe "nicht gut funktioniert". Ohnehin gab es, seit Kohl Pharma das Blister-Thema 2004 erstmals öffentlich lancierte, von Apothekerseite immer wieder mehr oder weniger laut geäußerte Vorbehalte gegen einen indus-triellen Fertigungspartner.

"Das hat uns ein bisschen schockiert"

Ist das drin, was drin sein soll? - Lasergesteuerte Qualitätskontrolle eines Schlauchblisters.

Ist das drin, was drin sein soll? - Lasergesteuerte Qualitätskontrolle eines Schlauchblisters.

© Berz

Doch die Blisterpioniere von Kohl Pharma sind nicht die Einzigen, die mit Reibungsverlusten zu kämpfen haben. Auch bei dem Testballon, den die AOK Bayern zusammen mit mehreren Apotheken im Freistaat seit drei Jahren steigen lässt - ebenfalls Wochenblister in Pflegeheimen - läuft längst nicht alles rund.

Neben Abrechnungsproblemen und dem Verwaltungsaufwand beklagt die AOK die ungenügende Verständigung zwischen Ärzten und Apothekern. "Das hat uns ein bisschen schockiert", sagt ein Kassensprecher.

System soll ausgedehnt werden

Besonders bei Rezeptänderungen habe es Friktionen gegeben, außerdem sei es den Apotheken nicht gelungen, die heimversorgenden Ärzte nennenswert zur Ausstellung von blisterkonformen Rezepten zu bewegen und beispielsweise keine geteilten Tabletten zu verordnen.

Trotzdem ist die AOK Bayern von der patientenindividuellen Medikamentenverblisterung überzeugt. Bereinigt um seine Kinderkrankheiten soll das System jetzt auf die AOK-Pflegenetze, ein IV-Projekt zur Verbesserung der ärztlichen Versorgung von Pflegeheimbewohnern, ausgedehnt werden.

Auch die AOK Nordost verhandelt dem Vernehmen nach mit dem BVDA, wie die Verblisterung nach dem Ausstieg von 7x4 weitergehen kann.

"MediFalter" hat eigenes Produkt zur industriellen Verblisterung entwickelt

Letzte Eisen im Feuer der ambulanten Chroniker-Versorgung hat derzeit nur noch Avidiamed. Die Tochter des Hamburger Maschinenbauers Körber hat mit dem "MediFalter" ein eigenes Produkt zur industriellen Verblisterung entwickelt.

Aktuell produziert Avidiamed Wochenblister für rund 200 Patienten: Mit der AOK Baden-Württemberg für deren IV-Projekt "Gesundes Kinzigtal" sowie mit der AOK Hessen und dem Gesundheitsnetz Osthessen.

An diesem Versuch in der Region Fulda beteiligten sich alle ortsansässigen Apotheker, heißt es. Ein Pilot mit der BKK24 ist beendet und wird gerade ausgewertet. Weitere Medifalter-Versuche würden vorbereitet und sollen noch dieses Jahr starten.

Integration des Wochenblisters durch GKV-einheitliche Vergütung ermöglichen

Von ungeahnten Schwierigkeiten haben Avidiamed oder seine Projektpartner bis dato nichts durchdringen lassen. "Die Ärzte sind begeistert, die Patienten bleiben am Ball", versichert Vertriebsleiter Nikolai Strub. Die Apotheker hätten anfangs mit höherem Arbeitsaufwand sowie Liefer- und Lagerproblemen gerechnet, Bedenken, die sich im Laufe der Zeit aber zerstreut hätten.

Entscheidende Voraussetzung für einen breiteren, auch ambulanten Einsatz des Wochenblisters ist laut Strub dessen Integration in die Regelversorgung mittels GKV-einheitlicher Vergütung. Das sieht man auch bei 7x4 so. Kohl-Vorstand Geller: "Wir rechnen damit, dass das mit dem Pflegegesetz passiert. Wir werden uns gemeinsam mit der AOK politisch dafür einsetzen".

Der "MediFalter", Kartenblister mit Einzeldosis-Verpackung vom Hamburger Anbieter Avidiamed.

Der "MediFalter", Kartenblister mit Einzeldosis-Verpackung vom Hamburger Anbieter Avidiamed.

© Avidiamed

Blisterzentren ziehen an der Industrie vorbei

Tatsächlich widmet die CDU/CSU-Bundestagsfraktion in einem ersten Eckpunktepapier zur Pflegereform der Medikamenten-Verblisterung ein eigenes Kapitel. Man wolle "prüfen, wie der Aufwand des Verblisterns reduziert und kostengünstiger gestaltet werden kann", heißt es dort noch ziemlich vage.

"Dabei wollen wir auch grundsätzlich Form und Finanzierung der Verblisterung diskutieren". - Schon etwas konkreter dagegen ist das Vorhaben formuliert, analog zur bereits bestehenden Heimversorgung (§12a Apothekengesetz) auch Versorgungsverträge zwischen Apotheken und ambulanten Pflegediensten zu ermöglichen.

Interesse der ambulanten Pflegedienste an Medikamentenverblisterung

Das könnte einen Schub für die ambulante Verblisterung bringen. "Die ambulanten Pflegedienste sind an der Medikamentenverblisterung jedenfalls sehr interessiert", weiß BVDA-Geschäftsführerin Helga Fritsch.

Profitieren würden davon vor allem die regionalen Blisterzentren. Diese meist von Apothekern oder mit Apothekenhintergrund geführten Dienstleister bewältigen heute schon ein beachtliches Produktions-Pensum.

Aktuell tütet etwa die Deutsche Blister Union, ein Verbund von 14 Blisterzentren, den wöchentlichen Tablettenbedarf von 16.000 Patienten in Pflegeheimen ein. Auf größere Dinge bereitet sich auch Sanicare vor.

Expansion durch wachsende Nachfrage auch durch Kliniken

Kapazitäten für 10.000 Wochenblister will Unternehmenschef Johannes Mönter bis Ende dieses Jahres am Stammsitz in Bad Laer aufbauen und dann mit AMG-Herstellergenehmigung auch als Dienstleister für Dritte fungieren.

Momentan produziert Sanicare nur für die gruppeneigenen Apotheken, rund 2000 Blister pro Woche. Die Expansion sei durch die wachsende Nachfrage regional ansässiger Kollegen motiviert aber auch durch Anfragen mehrerer Kliniken, sagt Mönter.

Anders als 7x4 oder Avidiamed vertreiben die Blisterzentren kein eigenes Wochenblister-Design, sondern füllen Tabletten per Baxterautomaten streifenweise in Klarsichtkammern ab. "Verschlauchbeutelung" nennt das 7x4-Chef Geller etwas geringschätzig.

Avidiamed: "Wir bieten den Kassen Rabattverträge an".

Doch die Produktion der Blisterzentren ist deswegen nicht weniger sicher - Reinraum! -, die Fertigungsleistung längst um ein Vielfaches höher als alles, was bisher aus Merzig oder Rastatt, wo Avidiamed herstellt, geliefert wurde und die Flexibilität hinsichtlich kurzfristiger Medikationseingriffe ungleich größer als bei einem kartonierten Fertigprodukt, das zentral und über große Distanz ausgeliefert wird.

Den industriellen Anbietern ist mit den Blisterzentren längst eine Konkurrenz erwachsen, der sie etwas entgegensetzen müssen, sollte es zu direkten Verträgen zwischen Apotheken und ambulanten Pflegediensten auf der Grundlage einheitlicher Vergütungsregeln kommen. - Eine Antwort hat man bei Avidiamed heute schon parat: "Wir bieten den Kassen Rabattverträge an".

Resultate: Ähnliche Effekte in zwei unabhängigen Pilotprojekten

Was die Verblisterung bringt? Mitte Mai wurden die Resultate zweier Modellprojekte vorgestellt. Blisterpionier 7x4 Pharma präsentierte Daten aus Berliner Pflegeheimen, der Münchener Gesundheitsökonom Professor Günter Neubauer die vorläufige Auswertung eines Feldversuchs in Bayern, ebenfalls mit Pflegeheimen.

Bei dem Projekt von 7x4 und der AOK Nordost, evaluiert durch die Uni Münster, gingen die Klinikaufenthalte nach einem halben Jahr Wochenblister-Medikation um 27 Prozent zurück. An dem Feldversuch nahmen mehr als 500 Bewohner von Pflegeheimen teil.

Bei rechnerischen Kosten von 500 Euro pro Krankenhaustag, so 7x4, spare die Kasse pro Jahr und Patient 2038 Euro. Zieht man die Kosten für den Wochenblister ab - 275 Euro pro anno für Herstellung, Logistik und Apothekerhonorar - ergeben sich 34 Euro, die jeder Wochenblister der Kasse erspart.

Durch geringeren Verwurf reduzierten sich bei tablettengenauer Abrechnung die Arzneimittelausgaben zusätzlich um rund zehn Prozent, heißt es.

Ähnliche Zahlen legte Prof. Günter Neubauer vor, der einen Piloten der AOK Bayern mit zehn Apotheken, 20 Heimen und 580 Patienten begleitet hat.

Unterm Strich saldiert er Minderausgaben je Wochenblister von 30,30 Euro, die sich zu einer jährlichen Ersparnis von rund 1600 Euro pro Patient summieren. Zusätzlich ergäben sich wirtschaftliche Vorteile für die Pflegeheime, bei 100 Patienten wöchentlich etwa 500 Euro. (cw)

Lesen Sie dazu auch das Interview: Verblisterung: Rahmenbedingungen stimmen noch nicht

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