EHEC, bitte melden!

Eine Seuche bricht aus und das Gesundheitsamt arbeitet nur mit Schneckenpost. Dieses Bild hat sich während der EHEC-Epidemie in den Köpfen mancher Kritiker festgesetzt. Dabei könnte ein Blick hinter die Kulissen helfen.

Denis NößlerVon Denis Nößler Veröffentlicht:
Gesundheitsamt in Hamburg; von hier kamen die ersten HUS-Meldungen.

Gesundheitsamt in Hamburg; von hier kamen die ersten HUS-Meldungen.

© wolterfoto / imago

Die Geschichte der EHEC-Epidemie 2011 hat etliche Episoden. Da ist zum Beispiel die vom Biohof im niedersächsischen Bienenbüttel, von dem die mutmaßlich kontaminierten Sprossen ihren Weg auf die Teller von Tausenden Menschen fanden - knapp 4000 erkrankten.

Der Hof leidet noch heute unter den wirtschaftlichen Folgen. Erst wurde er gesperrt, dann mussten Mitarbeiter entlassen und die Sprossenanlage verkauft werden.

Oder die Geschichte eines Gasthofs in Klein-Meckelsen, im Norden Niedersachsens. Das Restaurant musste Konkurs anmelden, nachdem wenige Wochen zuvor auch hier Menschen Sprossen gegessen hatten und erkrankt waren.

Auch die epochemachende Anekdote von Hamburgs Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks und ihren spanischen Gurken ist um die Welt gegangen. Spanische Gurken vom Hamburger Großmarkt waren für ein paar Tage angeblich die Überträger der Erreger.

Die Folge dieser Falschmeldung: Iberische Bauern saßen auf ihrem Gemüse, am Ende vernichteten sie eine Ernte im Wert von 200 Millionen Euro.

Und natürlich gab es auch die Mär über ein Meldewesen, das scheinbar nicht ganz so richtig funktionieren wollte. Kritik kam aus allen Himmelsrichtungen, irgendwann musste der Gesundheitsminister reagieren und eine Gesetzesänderung vorlegen.

Viel wurde über all das geschrieben und gesendet. Doch oft blieben die Geschichten hinter den Geschichten auf der Strecke, eroberten höchstens eine Nische zwischen anderen Meldungen.

Dabei könnten sie womöglich viele Dinge in ein ganz anderes Licht rücken. Das Meldewesen und die Arbeit der Gesundheitsämter vor Ort sind solche Themen.

Auf dem wissenschaftlichen Kongress der Amtsärzte Anfang Mai in Erfurt konnte man sich ein Bild davon machen - ein Bild, das sich mit der öffentlichen Wahrnehmung nicht in allen Teilen deckt.

Kurz und knapp: die Amtsärzte sind sauer und wütend. Wütend sind sie darauf, dass ihnen von vielen Seiten Versagen vorgeworfen wurde. Sauer sind sie, weil ihre Arbeit in ihren Augen nicht ausreichend dargestellt wurde.

Tatsächlich genügt ein Blick in die offiziellen Abschlussberichte der deutschen Bundesbehörden BVL, BfR und RKI und der europäischen Behörden EFSA und ECDC.

Selten wird dort erwähnt, dass gerade die Ämter vor Ort die Erkrankungscluster erkannt und ermittelt haben. So war es auch mit einem Cluster aus Klein-Meckelsen im Norden Niedersachsens.

Rückblick: Eines Morgens, es muss wohl der 31. Mai 2011 gewesen sein, erhält das Gesundheitsamt des Landkreises Rotenburg einen Anruf von der Medizinischen Hochschule in Hannover (MHH): "Hier laufen Patienten rum, die sich kennen."

Vier Patienten mit Durchfallsymptomen aus einem Landkreis, die sich zufällig in der Klinik begegnen? Der Chef des Gesundheitsamtes, Dr. Frank Stümpel, denkt an einen Cluster.

Sofort beginnt die Vor-Ort-Ermittlung, Nachbarn werden gesucht und befragt. Stümpel: "Das funktioniert nur, wenn man sich vor Ort auskennt, das geht nicht aus einem Bundesministerium heraus."

Die Nachbarn bestätigen schließlich, dass die Erkrankten gemeinsam in dem Gasthof in Klein-Meckelsen gegessen hatten. Die Mitarbeiter des Gesundheitsamtes rufen dort an. Niemand ist erreichbar, also fahren sie direkt dort hin.

Die Adresse der Besitzerin hatten sie von der Meldebehörde. Sie treffen die Besitzerin zu Hause an, sie ist schockiert, hat aber eine Liste der letzten Veranstaltungen in ihrem Gasthof: bei zwei weiteren hatten alle das gleiche Essen erhalten.

Schließlich können Stümpels Mitarbeiter 206 Teilnehmer dieser Veranstaltungen ausfindig machen und telefonisch befragen. Bis zum Mittag am Tag nach dem Anruf aus der MHH haben sie alle Teilnehmer außer vier erreicht.

Vier Tage später warnt Niedersachsens Landwirtschaftsminister Gert Lindemann schließlich vor Sprossen. Diese Episode aus dem niedersächsischen Rotenburg wird sich so oder ähnlich in anderen Orten zugetragen haben.

Etwa in Lübeck. Dort sorgte der Kartoffelkeller für reges Medieninteresse. 17 Menschen waren erkrankt, nachdem sie in diesem Restaurant gegessen hatten. Weitere ähnliche Cluster brachten schließlich den entscheidenden Hinweis: Die Restaurants hatten Sprossen vom Biohof in Bienenbüttel auf ihrer Speisekarte.

Dass diese Zusammenhänge in nur wenigen Tagen aufgedeckt werden konnte, führen die Beteiligten auf die Zusammenarbeit zwischen den Ämtern vor Ort und der EHEC-Task-Force auf Bundesebene zurück.

Und so wundern sich die Ärzte im öffentlichen Gesundheitsdienst auch über die Föderalismuskritik. Sie hatte während des Ausbruchs Hochkonjunktur.

Die Vorwürfe ärgern auch den Präsidenten des Niedersächsischen Landesgesundheitsamt (NLGA), Dr. Matthias Pulz, noch heute. "Reflexartig werden föderale Strukturen als kontraproduktiv kritisiert." Zur Bewältigung sei gerade die Kenntnis der örtlichen Begebenheiten unabdingbar, sagt Pulz.

Was ihn ebenfalls stört, ist die Diskussion um das vermeintlich marode Meldewesen. Zur Erinnerung: Als Lehre aus der EHEC-Epidemie hat Gesundheitsminister Daniel Bahr ein Gesetz auf den Weg gebracht, mit dem die Meldung zwischen Gesundheitsämtern und Robert Koch-Institut (RKI) deutlich verkürzt werden soll - wenngleich das Gesetz bislang im Vermittlungsausschuss von Bund und Ländern hängt.

Oft wurde dem Gesundheitsdienst vorgeworfen, Seuchenmeldungen würden nur per Fax und "Schneckenpost" übermittelt. Eine glatte Lüge, entgegnen Vertreter aus den Ämtern. Pulz ist diplomatischer: "Der Meldeverzug wurde in vielen Talkshows überbewertet."

Professor Klaus Stark vom RKI pflichtet ihm bei: "Im Gesamtgeschehen war die Meldeverzögerung kein großes Problem."

Dennoch: es gab Probleme, auch an der Basis. Denn trotz der Meldepflicht haben nicht alle Ärzte und Labore die Fälle gemeldet, kritisiert Professor Gérard Krause, Chef der Infektionsepidemiologie am RKI, im Interview mit der "Ärzte Zeitung".

Auch die Diagnostik ist offenbar ein Problem. Oft wird sie nicht oder nur ungenau gemacht. Informationen zu den Serogruppen wurden nur bei rund 40 Prozent aller Fälle ermittelt, selbst nur bei jedem zweiten HUS-Patienten (56 Prozent).

RKI-Mann Stark: "Die Feintypisierung ist ganz wichtig, um Cluster besser erkennen zu können."

Pulz sieht ein weiteres Problem: Die niedergelassenen Ärzte sind über die Verteiler der Ämter nicht rund um die Uhr erreichbar. "Für Rückfragen hilft uns das nicht", sagt er. Helfen könnten hier elektronische Systeme, doch das ist bislang Zukunftsmusik.

Und auch die Bundesbehörden wissen, dass nicht alles reibungslos lief. Dr. Heidi Wichmann-Schauer, vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) sagt rückblickend: "Die Bildung der Task-Force hat zu lange gedauert."

Vorher habe es viel Doppelarbeit gegeben, "die Kommunikationswege waren viel zu lang". Das will Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner allerdings ändern. Bald soll eine dauerhafte Task-Force gegründet werden.

Kurve einer Epidemie

Mehr zum Thema

Praxis-IT

KBV: Neuer Anforderungskatalog an PVS

Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen
Lesetipps
Der papierene Organspendeausweis soll bald der Vergangenheit angehören. Denn noch im März geht das Online-Organspende-Register an den Start.

© Alexander Raths / Stock.adobe.com

Online-Organspende-Register startet

Wie Kollegen die Organspende-Beratung in den Praxisalltag integrieren