"Mein Arzt sagt, ich sei HIV-positiv. Was soll ich denn jetzt tun?"

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Es ist Nacht. Eine junge Frau greift zum Hörer und wählt eine Nummer. Ein Mann meldet sich: "Telefonseelsorge." Die beiden haben nie zuvor miteinander geredet und werden sich wahrscheinlich auch nie begegnen. Aber die Frau erzählt dem Fremden, was weder ihre Familie noch ihre Freunde bisher wissen. "Mein Arzt heute. Ich sei HIV-positiv, hat er gesagt." Ihr kleines Kind schläft nebenan. Was sie jetzt tun soll, fragt sie verzweifelt - die Frage, die die Seelsorger am Telefon wohl am häufigsten zu hören bekommen.

Standardantworten gebe es nicht, erstes Gebot sei Zuhören, meint Annelie Bracke (44), Leiterin der katholischen Telefonseelsorge Köln, die in diesem Monat ihr 25jähriges Bestehen begeht. "Patentrezepte nützen gar nichts, wir müssen erst einmal durchdringen. Es ist wichtig, daß eine echte Begegnung zustande kommt." Nur dann lasse sich sagen, was ein Anrufer realistischerweise als nächstes tun könne.

Nicht alle Anrufer sind in einer so verzweifelten Lage wie die junge mit HIV infizierte Mutter. Ängste treiben viele ans Telefon. Die Sorge um den Arbeitsplatz, die Furcht vor dem privaten Ruin mache in jüngster Zeit immer mehr Menschen zu schaffen, beobachtet Bracke. Ob Arbeiter oder Manager, viele geraten schon aus dem Tritt, längst bevor die Katastrophe wahr wird. "Bei Männern, die tagsüber noch funktionieren, kommen dann nachts die Gespenster hoch", sagt Bracke.

Insgesamt gibt es in Deutschland 105 Telefonseelsorgestellen. 64 von ihnen sind ökumenisch. In Köln arbeiten eine katholische und eine evangelische Stelle. Aber die Standards, nach denen die Mitarbeiter ausgesucht und ausgebildet werden, sind bundesweit einheitlich, genau wie die Grundsätze der Beratungsstellen. Sie versprechen Anonymität, Verschwiegenheit, Erreichbarkeit Tag und Nacht sowie Kostenfreiheit. Ist eine Leitung besetzt, wird der Anruf an die nächstgelegene Stelle weitergeleitet, ob sie nun katholisch, evangelisch oder ökumenisch ist.

Die meisten Telefonseelsorger nehmen die Hilferufe ehrenamtlich entgegen. Bei der katholischen Stelle in Köln arbeiten außer Bracke noch sechs Angestellte. Ihnen stehen 40 Frauen und Männer zur Seite, die in ihrer Freizeit am Telefon sitzen. Die Ausbildung dauert zehn Monate. Selbsterfahrung in Gruppensitzungen ist ein zentraler Baustein: Wer nicht in Konflikte der Anrufer hineingezogen werden will, muß die eigenen Untiefen kennen.

Allein die beiden Kölner Stellen bekommen 50 000 Anrufe pro Jahr unter den bundesweit einheitlichen kostenlosen Telefon-Nummern 0800-111-0-111 und 0800-111-0-222. Zum Verdruß der Seelsorger und Klienten blockieren oft Kinder die Leitung mit vorgetäuschten Problemen oder Scherzanrufen. Sex-Anrufer versuchen regelmäßig - unter dem Vorwand, Hilfe zu suchen - auf ihr Lieblingsthema zu sprechen zu kommen.

Aber der ganz überwiegende Anteil der Anrufer sucht wirklich ein offenes Ohr, einen Rat. Zwei Drittel sind Frauen, die meisten sind zwischen 30 und 50 Jahre alt. Einsamkeit, Krankheit, Probleme in der Partnerschaft, der Schule oder bei der Arbeit sind die Themen. (dpa)

Weitere Informationen im Internet unter www.telefonseelsorge.de und www.telefonseelsorge-koeln.de

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