Der Herzkatheter-Selbstversuch: Dichtung und Wahrheit

Von Ralf Bröer Veröffentlicht:

Vor 100 Jahren, am 29. August 1904, wurde in Berlin Werner Forßmann geboren, der für seine Herzkatheterisierung im Selbstversuch den Nobelpreis erhielt. Wohl kaum ein Kapitel der Medizingeschichte eignet sich so für eine Verfilmung wie die Geschichte seines Lebens. Vor einer kritischen Würdigung des Drehbuches soll das Drama deshalb noch einmal so erzählt werden, wie es in der Geschichte der Kardiologie verankert ist:

Im Sommer 1929 beschloß der 25jährige Assistenzarzt Werner Forßmann, sich mit eigener Hand als erster Mensch einen Harnkatheter über die Ellenbeugenvene ins rechte Herz vorzuschieben. Forßmanns Chef in Eberswalde verbot ihm aus ethischen Gründen dieses Experiment.

Daraufhin führte Forßmann den Katheter heimlich in der Mittagspause mit Hilfe einer Krankenschwester 30 Zentimeter weit in die Armvene ein, stieg mit liegendem Katheter die Treppen zur Röntgenabteilung in den Keller hinunter, schob die Sonde weitere 30 Zentimeter vor und ließ eine Aufnahme anfertigen, die die Katheterspitze im rechten Vorhof zeigte.

"Mit solchen Kunststückchen habiliert man sich im Zirkus!"

Forßmanns Chef verschaffte ihm eine Stelle an der Chirurgischen Klinik der Berliner Charité unter Ferdinand Sauerbruch. Am 5. November 1929 erschien ein Aufsatz Forßmanns und erregte sofort großes Aufsehen in der Boulevardpresse. Der erboste Sauerbruch entließ Forßmann daraufhin mit den Worten: "Mit solchen Kunststückchen habilitiert man sich in einem Zirkus und nicht an einer anständigen deutschen Klinik!"

Forßmann blieb nichts anderes übrig, als sich der klinischen Chirurgie und Urologie zuzuwenden. Jahrelang nahm kaum jemand seine Ergebnisse zur Kenntnis, und bald geriet er in Vergessenheit. "Müde und zerschlagen" kehrte er 1945 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurück und praktizierte unbemerkt von der Öffentlichkeit in einem Schwarzwalddorf, später in Bad Kreuznach. Hier überraschte ihn der Ruhm. Am 18. Oktober 1956 verbreitete sich die Nachricht, daß Forßmann zusammen mit zwei Amerikanern der Nobelpreis für Medizin verliehen werden sollte.

Doch Forßmanns Rückkehr in die physiologische Forschung war inzwischen unmöglich. Immerhin erhielt er 1958 einen Chefarztposten in Düsseldorf. Nach seiner Pensionierung kehrte Forßmann in den Schwarzwald zurück, wo er am 2. Juni 1979 an einem Herzinfarkt starb.

Diese Erzählung hält einer kritischen Analyse nicht in allen Punkten stand. Forßmann besaß 1929 keinerlei tierexperimentelle Erfahrungen und war auch nicht mit der Arbeitsweise eines kardiopulmonalen Labors vertraut. Ein Forschungsprogramm existierte nicht einmal in Ansätzen. Forßmanns einziges konkretes Ziel bestand darin, die Ungefährlichkeit der Herzkatheterisierung beim Menschen durch ein spektakuläres Experiment zu beweisen, um sich dadurch für eine akademische Karriere ins Gespräch zu bringen.

Zwei Versionen des Selbstversuchs

Forßmann erinnerte sich an eine alte Abbildung, die die Herzkatheterisierung beim Pferd zeigte. Aus der bloßen Lektüre leitete er die Ungefährlichkeit der Methode beim Menschen ab! Geplant waren zunächst Patientenversuche, erst als der Chef ablehnte, verfiel Forßmann auf den Selbstversuch.

Die Vorgänge am Tag der heroischen Tat wecken Zweifel an der Glaubwürdigkeit Forßmanns. In der Erstpublikation behauptete er, den Versuch "allein" gemacht zu haben. In den Memoiren präsentierte er eine andere Version. Da er sterile Operationsinstrumente benötigte, erwarb er das Vertrauen der Operationsschwester.

Als sie sich als Versuchsperson anbot, ging er scheinbar darauf ein. Kaum waren die Instrumente griffbereit, forderte er sie auf, sich für die örtliche Betäubung auf den Operationstisch zu legen: "Sie gab nach, und blitzschnell hatte ich ihre Beine mit dem großen Riemen so festgemacht, daß sie nicht an die Schnalle heran konnte und ihr auch die Handfesseln angelegt." Forßmann öffnete nun seine Armvene und schob den Katheter vor. Dann band er die empörte Schwester los und ging mit ihr in den Keller. Forßmann täuschte auch die Öffentlichkeit. In seinen Publikationen behauptete er, Leichen- und Tierversuche zur Vorbereitung gemacht zu haben.

Der Nobelpreis kam gar nicht so überraschend

Der "geniale" Forßmann war kein Opfer des "ignoranten" Sauerbruch. Seit 1931 arbeitete er zum zweiten Mal an dessen Klinik. Noch vor der Machtübernahme Hitlers trat Forßmann 1932 in die NSDAP ein. Wenig später wechselte er, von Sauerbruch wegen mangelhafter wissenschaftlicher Initiative abgeschoben, nach Mainz und machte eine respektable Karriere als Oberarzt an mehreren Kliniken. Mit Kriegsbeginn wurde Forßmann als Sanitätsoffizier zur Wehrmacht einberufen. Bereits seit 1935 hatte er freiwillig viele Wehrübungen, Manöver und Kurse absolviert. Seit Herbst 1942 war er vom Frontdienst befreit. Von 1945 bis 1948 erhielt er Berufsverbot.

Auch der Nobelpreis kam keineswegs so überraschend wie immer dargestellt. Bereits 1954 wurde er auf dem deutschen Chirurgenkongreß geehrt. Zwei Jahre später folgte der Nobelpreis. Spätestens jetzt wurde seine Geschichte zur Legende.

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