"Gedichte haben etwas Magisches" - auch für Kranke

Von Klaus Brath Veröffentlicht:

Gedichte sind für Verliebte, ansonsten sind sie antiquiert, langweilig und schwer verständlich - so lautet ein verbreitetes Vorurteil. Dr. Felizitas Leitner, Fachärztin für Allgemeinmedizin in Weßling, hält dagegen: "Gedichte haben etwas Magisches" - auch und gerade für Menschen, denen nach allem anderen zumute ist als sich zu verlieben: für Kranke.

"Gesund durch die Kraft der Poesie" heißt denn auch der Untertitel ihres Buchs, in dem Leitner 38 ausgewählte Gedichte versammelt und interpretiert. Diese sind nach Themen geordnet, die in der ärztlichen Praxis häufig vorkommen: Trennung, Krankheit, Tod sowie Trost und Hoffnung. Das Spektrum der Autoren und Gedichtformen ist vielfältig.

Es reicht vom Barockdichter Andreas Gryphius über Heinrich Heine bis zu zeitgenössischen Dichtern wie Robert Gernhardt und Ulla Hahn, vom klassischen Versmaß Goethes und Schillers bis hin zu modernen Sprachexperimenten. Etwa dem der 1982 geborenen Lyrikerin Nora Bossong - ihr Gedicht "Schlaflied" besteht nur aus einer einzigen Strophe, in der Satzfetzen an Satzfetzen ohne Punkt und Komma gereiht sind.

So schwierig manche Texte zunächst anmuten, so ungekünstelt und alltagsnah erläutert Felizitas Leitner die in den Gedichten vorgefundenen Schmerzsituationen und Heilansätze. Da klingt etwa in Maik Lipperts "Begegnen ist mit dir" die Trauer über eine durch Krankheit beendete Liebesgeschichte an.

Maria Luise Weissmanns Gedicht "Der Kranke" sensibilisiert dafür, daß sich durch den Verlust der Gesundheit auch neue Perspektiven ergeben und neue biographische Schwerpunkte gesetzt werden können. Nicht selten führt gerade das Erlebnis von Todesnähe dazu, das Leben intensiver wahrzunehmen. Wie einmalig und lebenswert der Tod das Leben macht, vermittelt etwa Gottfried Kellers "Wir wähnten lange recht zu leben."

Sicherlich kann die Lektüre dieser Gedichte die medizinische Therapie nicht ersetzen. Daß Poesie eine heilsame Wirkung entfalten kann, zeigt jedoch die traditionsreiche Praxis der Bibliotherapie, die insbesondere in den angelsächsischen Ländern bevorzugt in der Psychotherapie eingesetzt wird. "Ein Gedicht bietet für einen kranken Menschen viele Vorteile", schreibt Felizitas Leitner im Vorwort ihrer Gedichtsammlung: "Es eröffnet bereichernde Einsichten und weist auf unbekannte Zusammenhänge hin. Es kann beruhigen und trösten, Hoffnung wecken und Sinn vermitteln."

Wenn es gut ist, kann es in wenigen Zeilen sogar sagen, was wohl mancher Arzt in endlosen Sätzen kaum hinkriegt. Friedrich Rückert etwa, der 1833/4 zwei Kinder durch Scharlach verlor, gelangen in seinem bewegenden Zyklus von "Kindertotenliedern" solche Momente.

Felizitas Leitner. Die Venus streikt. Gesund durch die Kraft der Poesie. Daedalus. Münster 2004, 152 Seiten, broschiert, 16.80 Euro.

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