Bilder als Brücken über dem Abgrund der Isolation

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Das festlich geschmückte Foyer der Münchener Kleinen Komödie ist brechend voll. Menschen stehen dicht gedrängt vor den Bildern, unterhalten sich, ein Glas Wein in der Hand, Kinder spielen zwischen den Beinen der Erwachsenen.

Zum dritten Mal jährt sich die Ausstellung der Ateliergemeinschaft ÜberLebenszeichen von HIV-infizierten Künstlern an diesem Ort. Noch nie sind so viele Menschen gekommen wie dieses Mal. Ein ermutigender Erfolg, stellen die Organisatoren, der Arzneimittelhersteller Bristol-Myers Squibb (BMS) und die Ateliergemeinschaft, mit Genugtuung fest.

Die Geschichte der Ateliergemeinschaft ist eine Erfolgsgeschichte. Eine Demonstration, wie HIV-Infizierte mit moderner medizinischer Versorgung einerseits, Mut und Initiative andrerseits, physisch und sozial überleben und dabei - als Therapie und Selbstzweck - aufregende Kunstwerke schaffen.

Die Ausstellung soll helfen, Ausgrenzung zu überwinden

Das Leben HIV-Infizierter und AIDS-Kranker ist eine Reise voller Ungewißheiten, geprägt und erschwert von Ausgrenzung und Isolation. Brücken, sagte Dr. Tim Rakemann von BMS, verbinden, was getrennt ist. Sie führen über Abgründe und Schluchten. Sie ermöglichen den Zugang zu anderen Landschaften, Ländern, zu anderen Menschen. Manchmal zu anderen Welten. Brücken helfen, Fremdheit und Ausgrenzung zu überwinden. "Bücken bauen" ist denn auch der Titel der diesjährigen Ausstellung.

Das Bild zeigt weiße, nackte Männer vor einem roten und blauen Hintergrund. Die Köpfe wie gegen starken Wind gesenkt, bilden sie mit ihren ineinander verschlungenen Armen gleichmäßige Rundbögen - die Bögen einer Brücke. Eine stabile Brücke wie eine aus der Römerzeit, die noch heute überdauern. Eine Brücke aus Menschen, die sich vereint, entschlossen und verschworen gegen Bedrohung und Anfeindung stemmen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, den Abgrund aus Einsamkeit und Isolation mit ihren Körpern zu überbrücken.

Auch der Maler dieses Bildes, Dr. Harald Stadler von der Ateliergemeinschaft, hat in seiner Ansprache auf der Vernissage das Bild einer Reise beschworen: Reisende schicken von unterwegs Postkarten nach Hause. Auf denen sind Landschaften, Städte, Monumente abgebildet, die die Reisenden gesehen und die sie beeindruckt haben.

Gleichzeitig sollen diese Karten den Daheimgebliebenen vermitteln: Wir sind unterwegs, wir erleben viel. Wir leben. So ähnlich, meinte Stadler, seien auch die Werke der Ateliergemeinschaft - zu ihr gehören Harald, Sepp, Tomasso und Stefan - zu verstehen. Das Leben der HIV-Infizierten gleiche einer Reise durch unwirtliches Land, unwegsames Gebiet, oft werden die Reisenden als Fremde empfunden und abgelehnt.

Viele Hindernisse sind zu überwinden. Es gilt, Gefahren zu bestehen. Manchmal öffnen sich Ausblicke auf das Glück. Oft sind Brücken die Rettung, wenn der Weg so nicht mehr weiter geht. Die Bilder, Produkte der Auseinandersetzung mit der Reise, seien Eindrücke von unterwegs, seien Lebenszeichen, ÜberLebenszeichen, so Stadler.

Manche Bilder zeugen von schweren Lebenskrisen und Furcht, andere strahlen Zuversicht aus, zeigen Visionen, Wünsche, Hoffnungen. Auch wenn bei dieser Ausstellung nicht das "schöne Produkt" im Vordergrund stehen soll, sondern die therapeutische Wirkung des Malens, ist doch das künstlerische Niveau der Bilder hoch geblieben, hat sich sogar noch gesteigert.

Zum Beispiel ein weiteres Bild von Harald - die Künstler der Ateliergemeinschaft unterzeichnen nur mit Vornamen -: Auf blauem Hintergrund liegt ein Buch aufgeschlagen da. Eine Seite ragt senkrecht nach oben. Auf der schmalen Kante dieser Seite balanciert eine Figur wie ein Artist. Ein Wunder, daß er sich halten kann. "Wie Wunder wirken" heißt das Bild. Wirken Wunder, indem sie gedacht werden?

Kontrast von Bedrohung und Trost spricht aus den Bildern

Beim Gemälde "Honigmond" von Sepp öffnet sich zwischen zwei halbrunden, hochaufragenden Blöcken eine Schlucht, darüber ein kleiner weißer Mond auf zartgelbem Hintergrund, ein Kontrast von Wärme und kühler Distanz, Bedrohung und Trost. Suggeriert der Titel den Trug der Liebe? Zarte Hoffnung? Sinnlichkeit?

Trauer und Sehnsucht sprechen aus dem Bild "Heimweh" von Tomasso: Hinter einem hohen Zaun und einem säulenbewehrten Tor führt eine lange, graue Straße zu einem gelben, freundlichen Haus in einem Garten mit Blumen. Weit entfernt scheint das Haus, unüberwindlich der Zaun, lang die Straße.

Manche Bilder überraschen den Malenden selbst, heißt es im Statement der Ateliergemeinschaft. Malen hilft, Brücken zu bauen. Brücken vom Unbewußten des Malers zu seiner eigenen Wahrnehmung und Besinnung, Brücken zu Wahrnehmung und Besinnung des Betrachters.

Die Ausstellung ist noch bis zum 7. Januar 2005 geöffnet. Großformatige Kalender "Visionen 2005" mit Bildern der Ausstellung können für zehn Euro erworben werden, blaue AIDS-Teddybären kosten fünf Euro. Die ausgestellten Bilder sind alle käuflich zu erwerben. Der Erlös kommt der Münchner Ateliergemeinschaft ÜberLebenszeichen zugute.



Hilfsprogramm für Afrika

Der Pharmakonzern Bristol-Myers Squibb unterstützt nicht nur ÜberLebenszeichen, indem er Ausstellungen organisiert und Kalender drucken läßt. Der Konzern engagiert sich besonders in dem Kontinent, in dem es die meisten Aids-Erkrankungen gibt, in Afrika.

Das Programm "Secure the Future", das größte Hilfsprojekt, das je ein Pharmakonzern ins Leben gerufen hat, umfaßt Aufklärungs-, Präventions- und Behandlungsprogramme (wir berichteten). Seit dem Gründungsjahr 1999 (auch auf Initiative von Kofi Annan) wurden über 100 Millionen Dollar in über 130 Hilfsprogramme investiert. (dreß)

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