Der Stiefvater faltet sein Lächeln ins Tuch und steckt es in die Tasche

Von Sandra Trauner Veröffentlicht:

Der portugiesische Textmagier Antonio Lobo Antunes hat ein neues Meisterwerk vorgelegt: In keinem seiner vielen Romane ging sein eigenwilliger Stil eine so perfekte Verbindung mit dem Inhalt ein wie in seinem neuen Buch über das Ende der portugiesischen Kolonialherrschaft in Angola.

Mit "Guten Abend ihr Dinge hier unten" hat sich Lobo Antunes ein Lebensthema vom Leib geschrieben. 1970 bis 1973 verbrachte er als Soldat und Militärarzt in Angola, Jahre, die sein Leben und sein Schreiben entscheidend prägten. Jahrzehnte lang hielt er es nicht für möglich, diese Erfahrungen zum Thema eines Romans zu machen. Nun, mit über 60, hat er es doch gewagt.

"Es ist unmöglich, einen Roman über den Krieg zu schreiben"

Die Hauptfiguren sind drei portugiesische Geheimagenten, die mit dem Auftrag nach Angola reisen, gestohlene Diamanten zu finden. Keiner von ihnen kehrt in die Heimat zurück. Der Chor ihrer inneren Monologe wird begleitet von den Stimmen derer, die ihren Weg kreuzen.

Es sind die ewigen Verlierer jedes Krieges, die dieser vielstimmige Chor besingt. Menschen, die der Krieg, wenn nicht äußerlich, so doch innerlich zu Krüppeln gemacht hat. "Es ist unmöglich, einen Roman über den Krieg zu schreiben", so der Autor, der Krieg selbst sei zu grausam, "man kann nur Dinge erzählen, die mittelbar mit ihm zu tun haben".

Der Roman ist ein Protokoll der menschlichen Psyche unter Ausnahmebedingungen. Der Autor kann dabei nicht nur aus seinen Kriegserlebnissen schöpfen, sondern bringt auch seine Berufserfahrung als Psychiater ein.

Lobo Antunes’ Roman macht Krankheitsbilder erlebbar

Aber der Roman beschreibt Krankheitsbilder nicht, sondern macht sie erlebbar: Die Erinnerung einer Frau, die als Kind Augenzeugin der Ermordung ihrer Eltern wurde, bleibt stets aufs Neue hängen beim Diebstahl ihres Vogels und dem Geräusch der offenen Käfigtür. Ein Vater erlebt die Vergewaltigung seiner Tochter beim Anblick eines sterbenden Pferdes.

Lobo Antunes' Texte sind wie die Bilder der Spätimpressionisten, die sich nahe der Leinwand in bedeutungslose Farbpunkte auflösen und erst in einer gewissen Entfernung zum Gemälde fügen.

Durch eine meisterhafte Technik der Parallelisierung verbindet er die Stoffteilchen zu einem gigantischen Patchwork: Eine Geste beim Glätten einer Landkarte führt zum Kleiderladen des Vaters, ein ausgetrockneter Brunnen in der Wüste leitet ohne Punkt und Komma zum Olivenhain des Großvaters und über dessen Hilflosigkeit als alter Mann zurück zum schwer verletzten Kollegen in Angola.

Daß die Zeitebenen in seinen Texten verschwimmen, ist ebenfalls ein Erbe Afrikas: "Für meine Romane war das Zeitgefühl wichtig, das ich dort gelernt habe", sagt der Autor. "In Afrika gibt es weder Vergangenheit noch Zukunft, nur die immense Gegenwart."

Ein einziger, zwölfeinhalb Seiten umfassender Satz

Zum Glück weiß der unbedarfte Leser schon bald, was ihn erwartet: In einem furiosen Prolog umreißt Lobo Antunes eine inzestuöse Familiengeschichte in einem einzigen, zwölfeinhalb Seiten umfassenden Satz. Daß der grammatikalisch nicht korrekt sein kann, verzeiht man gern, ebenso wie man bald die fehlenden Punkte und spärlichen Kommata kaum noch vermißt.

Für den erhöhten Konzentrationsaufwand wird der Leser entschädigt mit traumschönen Passagen, die dem "Primwort", nach dem Lobo Antunes in seinen Texten sucht, sehr nahe kommen.

Nach dem Mord an der Mutter wächst ihr rotes Kleid in den Augen des Kindes am Boden entlang und die Wände hinauf. Ein Stiefvater faltet sein Lächeln ins Tuch und steckt es in die Tasche. Brillengläser werden zu Aquarien, in denen die Blicke mit den Schwanzflossen schlagen. "Und ein Kind mit schwachen Gliedern hing mit den Lippen fest am abnehmenden Mond ihrer Brust."

Antonio Lobo Antunes: Guten Abend ihr Dinge hier unten. Luchterhand Verlag. München 2005. 745 Seiten. 24,90 Euro.

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