Gegründet als Forschungsstätte für Paul Ehrlich

Von Nicola Siegmund-Schultze Veröffentlicht:

Da stand er, hat die Reagenzgläser in Richtung der großen, hohen Fenster gehalten und neu synthetisierte Substanzen nach der Vakuumtrocknung im Gegenlicht betrachtet. Hier hat er seine maßgeblichen Ideen verwirklicht: Krankheitserreger zu bekämpfen mit chemischen Substanzen, die eine spezifische Affinität zum Pathogen haben und den menschlichen Körper in den verwendeten Konzentrationen möglichst wenig schädigen.

Das Labor, in dem Paul Ehrlich zwischen 1906 und 1915 im Georg-Speyer-Haus in Frankfurt am Main gearbeitet hat, ist mit originaler Ausrüstung und Mobiliar erhalten, gleich neben modernen Labors der Sicherheitsstufen eins bis drei, in denen die aktuelle Forschung an Viruserkrankungen und Krebs stattfindet. Der Zeitsprung von hundert Jahren ist mit einem Griff an die nächste Türklinke getan.

1906 ist das Georg-Speyer-Haus als Forschungsstätte für Paul Ehrlich gegründet worden, und er war bis zu seinem Tode 1915 der Direktor. Professor Bernd Groner, gegenwärtig Direktor des Georg-Speyer-Hauses, erinnerte bei einer Pressekonferenz zum hundertjährigen Jubiläum an die vorbildhafte Förderung der Wissenschaften durch Privatpersonen in der Gründerperiode, wie sie die Frankfurter Bankiersfamilie Speyer leistete.

Franziska Speyer, die Ehefrau des 1902 gestorbenen Bankiers Georg Speyer, richtete zu Ehren ihres Mannes eine Stiftung ein, die sich dem wissenschaftlichen Fortschritt auf den Gebieten der Chemotherapie und der Medizin verpflichtet sehen sollte.

Im international renommierten Georg-Speyer-Haus, dem chemotherapeutischen Forschungsinstitut, arbeiten heute knapp hundert Wissenschaftler mit den Schwerpunkten Krebserkrankungen, Virusinfektionen und Gentherapie. Bund und Land fördern das Institut mit 3,16 Millionen Euro pro Jahr, weitere vier Millionen kommen aus Drittmitteln.

Das Forschungspotential, das im Georg-Speyer-Haus stecke, könne damit aber nicht voll ausgeschöpft werden, sagte Groner. Und so appellierte er an private Geldgeber, sich - wie einst Franziska Speyer - in der Finanzierung hochkarätiger Wissenschaft zu engagieren.

Im Georg-Speyer-Haus wird Grundlagenforschung auf den Gebieten Tumor- und Infektionsbiologie betrieben mit dem Ziel, daß die Ergebnisse in die klinische Anwendung gelangen. Gerade beim Transfer von der experimentellen in die klinische Forschung sieht Groner eine Lücke: "Wir können nicht selbst in größerem Umfang klinische Studien machen", sagt er.

Unternehmen bekämen meist erst dann Interesse, Methoden und Substanzen weiterzuentwickeln, wenn wenigstens Ergebnisse aus Phase-I/II-Studien vorlägen. Durch dieses Nadelöhr kämen dann viele spannende Substanzen aus finanziellen Gründen nicht hindurch, obwohl es ein internationales Netz von Kooperationspartnern an Universitäten, anderen Forschungseinrichtungen und Partnern aus der Industrie gebe.

Ganz in der Tradition von Paul Ehrlich. Der hatte nicht nur gute Beziehungen zu Forschern aus aller Welt, zu lokalen und preußischen Politikern, sondern auch zur Industrie. So informieren die Farbwerke Hoechst in der ersten Hälfte des Jahres 1910 deutsche Apotheker und Ärzten mit erstaunlich moderner Werbewirksamkeit: "Das neue Ehrlich'sche Syphilis-Heilmittel bringen wir Mitte 1910 unter dem geschützten Namen Salvarsan in den Handel."

Es war die 606. Variante einer organischen Substanz, die Ehrlich zusammen mit seinem japanischen Assistenten Sahashiro Hata synthetisiert hatte und die beim Menschen als wirksam gegen Treponema pallidum befunden wurde. Kurze Zeit darauf entdeckten die beiden eine noch effektivere Variante, die als Neo-Salvarsan auf den Markt kam. Die erfolgreiche Bekämpfung der Syphilis mit diesen Medikamenten war die erste große Errungenschaft der Chemotherapie, bevor die Sulfonamide und das Penicillin entdeckt wurden.

Paul Ehrlich erforschte bekanntlich auch die antipathogenen Effekte von Blutseren, ebenfalls bis zur klinischen Anwendung, wofür er zusammen mit Ilya Metchnikov 1908 den Nobelpreis für Medizin erhielt. Zwischen 1912 und 1918 arbeitete der Chemienobelpreisträger (1937) Paul Karrer am Georg-Speyer-Haus, der etwa die Struktur von Beta-Karotin aufklärte. Von 1966 bis 1969 war Professor Niels Jerne Direktor des Instituts, der die Funktionsweise des Immunsystems erforschte und dafür 1984 den Medizinnobelpreis erhielt.

In dieser wissenschaftlichen Tradition stehen die medizinischen Behandlungsmethoden, die die Forscher des Georg-Speyer-Hauses heutzutage auf den Weg bringen: zum Beispiel spezifische Antikörper gegen Wachstumsfaktor-Rezeptoren auf Krebszellen an Toxine, die die entarteten Zellen abtöten. Pilotstudien mit Melanom-, Brust- und Prostatakrebspatienten sind erfolgreich abgeschlossen worden.

Ebenfalls im Georg-Speyer-Haus ist eine neue, lokal anwendbare Formulierung von Valproinsäure erforscht worden, die zusammen mit Retinoiden derzeit in einer Phase-II-Studie mit 50 Basalzellkarzinom-Kranken untersucht wird. Für HIV-Patienten wird eine Gentherapie entwickelt, die das Kapern neuer Wirtszellen durch das Virus verhindern soll. Auch dieser Ansatz ist einer ersten klinischen Pilotstudie zu Folge vielversprechend. Eine andere Form der Gentherapie soll Patienten mit erblicher, chronischer Granulomatose helfen.

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