"Wir leben in einer sich verdunkelnden Gesellschaft"

Von Nicola Siegmund-Schultze Veröffentlicht:

FRANKFURT/MAIN. Als Kurt Wallander, Kommissar der meisten Kriminalromane des schwedischen Schriftstellers Henning Mankell, eines nachts am Hafen unterwegs ist, denkt er darüber nach, warum erloschene Glühbirnen der städtischen Beleuchtung nie ausgetauscht werden: "Wir leben in einer sich verdunkelnden Gesellschaft", sinniert Wallander im Roman "Hunde von Riga".

Henning Mankell, der sich auch in seinen Krimis immer wieder mit dem Widerspruch hoher moralischer Ansprüche der Gesellschaft und dem latenten Scheitern in der Realität auseinandersetzt, will dennoch nicht aufgeben - jedenfalls nicht, wenn es um die Bekämpfung von HIV und Aids geht.

"Das HI-Virus wird auch ein Problem unserer Enkel sein"

Bei einer Talkrunde des HIV-Centers in Frankfurt am Main im Hessischen Rundfunk sagte Mankell: "Wir werden lernen müssen, mit dem Aids-Virus zu leben, denn es ist zu erwarten, daß das Virus ein Problem auch unserer Kinder und Enkel sein wird. Es ist eine Sache der Solidarität, ob das Leben mit dem Virus künftig besser gelingen wird als heute: Dazu müßten wir aufhören zu unterscheiden zwischen ,uns' und ‚den anderen'." Die anderen - das sind die Menschen aus der dritten Welt, aus Afrika zum Beispiel, wo sich Mankell besonders engagiert.

Im Gespräch mit Sandra Maischberger erläutert Professor Schlomo Staszewski von der Uniklinik Frankfurt, daß sich die HIV-Epidemien in Afrika und Europa tatsächlich nicht völlig unabhängig voneinander entwickeln: Mehr als 40 Prozent der Frauen, die in Deutschland positiv auf HIV getestet werden, haben einen Migrationshintergrund, sie kommen vor allem aus Regionen südlich der Sahara.

UNAIDS schätzt, daß allein im vergangenen Jahr 2,4 Millionen Menschen in Afrika südlich der Sahara an Aids gestorben sind. "Wir werden die Flüchtlingsströme aus diesen Regionen nicht einfach abstellen können", meint Staszewski. "Wir werden versuchen müssen, mehr Geld zu investieren, um Länder, die sich aus eigener Kraft nicht genügend helfen können, zu unterstützen, zum Beispiel, indem wir Ärzte bei uns ausbilden, Klinikpartnerschaften schaffen und den großen Erfahrungsschatz weitergeben, den wir in der Diagnostik und Therapie gesammelt haben."

So seien etwa bei der Einführung der antiretroviralen Therapie in Ländern der Dritten Welt Fehler gemacht worden, die sich hätten vermeiden lassen, wie der Einsatz von Mitteln, die wegen bekannter unerwünschter Wirkungen in den Industrienationen nicht mehr verordnet würden.

Wissen hilft, kann vor allem vor Ansteckung schützen, ist 3Sat-Moderator Gerd Scobel überzeugt. Allerdings müsse der kulturhistorische Hintergrund der Menschen berücksichtigt werden. Es gebe in allen Gesellschaften "hochgradig irrationale Faktoren" im Umgang mit Krankheiten.

Irrational ist in Deutschland zum Beispiel die Vorstellung vieler Menschen, eine HIV-Infektion sei heute nicht mehr dramatisch. Auch einige Medien hätten diesen Irrtum befördert, indem sie mit Berichten über Fortschritte der Medizin die Folgen der Krankheit verharmlosten. "Das hat dazu geführt, daß HIV-infizierte Menschen inzwischen wieder den Weg in den Untergrund antreten und sich seltener outen", meint Scobel.

Und Dr. Andreas Barner, Vorstandsmitglied bei Boehringer Ingelheim und Vorstandsvorsitzender des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller, hält in Deutschland eine große Chance für verpaßt: in die Vorbereitung auf die Fußball-WM die Aufklärung über HIV-Infektionsrisiken angemessen einzubeziehen.

ABC-Obulus pro verkauftem Buch

Um langfristig Aufklärungskampagnen in Afrika zu unterstützen, will Mankell sich in Schweden für einen ABC-Obulus beim Kauf von Büchern einsetzen: Ein Wert von 50 Cent pro verkauftem Buch soll in Bildungsprogramme in Afrika fließen, ist seine Idee. Die westlichen Länder machten "zu wenig zu spät". Aber, läßt Mankell Kommissar Kurt Wallander in "Hunde von Riga" sagen: "Es ist nie zu spät, um doch noch vernünftig zu werden."

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